Mehr als 156.000 erwerbstätige Sachsen im Alter von 18 bis 65 Jahren gelten als „riskante Gamer“. Das geht aus dem aktuellen Gesundheitsreport der DAK hervor. 20.000 Erwerbstätige erfüllen sogar die Kriterien einer Computerspielsucht.
Entscheidend sei, die Tendenz zur Abhängigkeit frühzeitig zu erkennen, sagt Professor Gerhard Bühringer. Der 71-Jährige ist Seniorprofessor am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden und Leiter der Arbeitsgruppe Abhängiges Verhalten. Die SZ sprach mit ihm.
Herr Professor Bühringer, wann sprechen Sie als Fachmann von einer Computer- oder Onlinespielsucht?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2018 Computerspielsucht als neue Diagnose einer psychischen Störung aufgestellt. Formell tritt das ab 2022 in Kraft. Darunter verstehe ich eine abhängige Teilnahme an Offline- oder Onlinespielen.
Welche Kriterien müssen für eine solche Sucht erfüllt sein?
Das erste wichtige ist der Kontrollverlust: Betroffene beschäftigen sich so sehr mit einem Spiel, dass sie nicht mehr davon wegkommen. Sie können die Dauer und Häufigkeit der Spielteilnahme nicht mehr beschränken und sind schon gar nicht zu einer Pause oder Beendigung fähig. Zweitens: Das Spielen muss ihren Lebensalltag vollständig beherrschen, sodass alles andere, etwa Familie oder Arbeit, vernachlässigt wird. Drittens: Durch das Spielen muss signifikanter Schaden entstehen. Viertens: Die Problematik muss über längere Zeit – also mindestens ein Jahr – andauern.
Was meinen Sie mit „signifikanter Schaden“?
Wenn das Vernachlässigen der Arbeit zur Kündigung führt. Oder wenn Spieler verheiratet sind und Kinder haben, sich aber nicht mehr um die Erziehung und die Partnerschaft kümmern, und es zur Scheidung kommt. Oder wenn sie Geld einsetzen – etwa, um virtuelle Gegenstände zu kaufen – und dabei große Summen verlieren.
Wo verläuft die Grenze zwischen riskantem Gebrauch und Sucht?
Der Übergang ist fließend. Riskantes Spielverhalten liegt nach der neuen WHO-Diagnose dann vor, wenn die genannten vier Kriterien noch nicht erfüllt sind, aber ein entsprechender Schaden in der Zukunft droht, wenn die Person ihr Verhalten weiter fortführt oder verstärkt.

Was kann ich tun, wenn ich merke, dass ein Angehöriger immer mehr Zeit vorm Rechner verbringt und beginnt, alles andere zu vernachlässigen?
Sie sollten ihn ansprechen und ihm sagen, dass Sie sich Sorgen machen und dies mit Beispielen untersetzen. Sie sollten deutlich machen, dass es so nicht weitergeht und eine Lösung gefunden werden muss.
Was, wenn die Ansprache nichts nützt?
Sie können niemanden in Behandlung zwingen, schon gar nicht Erwachsene. Sie können nur ernster werden, eventuell mit Konsequenzen drohen. Mit Jugendlichen können Sie Regeln festlegen. Zum Beispiel, wie viele Stunden am Tag der Rechner laufen darf. Das lässt sich dann mit Zeitkontrollsoftware durchsetzen. Entscheidend ist dann aber, Alternativen anzubieten. Das können zum Beispiel gemeinsame Unternehmungen sein.
Fast jeder ältere Teenager hat ein eigenes Smartphone. Der spielt im Zweifelsfall heimlich mobil weiter.
Das mag sein. Man muss allerdings auch einen gewissen Optimismus behalten. Ich habe eine Doktorarbeit betreut, für die jugendliche Onlinespieler vier Jahre lang immer wieder untersucht worden sind. Nach dieser Zeit war vieles, was wir zu Beginn als auffälliges oder gar abhängiges Nutzungsverhalten bezeichnen würden, wieder verschwunden. Häufig hat das damit zu tun, die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen neue Erlebnisse haben oder Erfahrungen machen, einen Beruf erlernen, eine Freundin oder einen Freund kennenlernen. Da verändert sich in vielen Fällen das Verhalten. Was nicht heißt, dass man immer darauf hoffen kann, dass es so kommt. Aber vieles verändert sich von selbst. Ob das Spielverhalten pathologisch wird oder nicht, ist für Laien oft nicht sofort zu erkennen. Erkennbar wird es aber im Verlauf, wenn kritische Zeichen – Häufigkeit des Spielens, Dominanz im Alltag, Dauer und negative Folgen – zunehmen.
Wir haben bisher nur über Computerspielsucht geredet. Das galt lange als männliche Domäne. Mädchen und junge Frauen, so hieß es, nutzten lieber soziale Medien wie Facebook und Instagram. Müssen wir nicht also auch über Social-Media-Sucht sprechen?
Nein. Derzeit wird das Thema in der Wissenschaft diskutiert, aber es gibt noch keine Einigung über eine entsprechende Einstufung als Krankheit.
Das ist verwunderlich...
Grundsätzlich gibt es zwei Tendenzen unter Fachleuten: Die eine geht dahin, den Suchtbegriff extrem auszuweiten. Nach dem Motto: Alles exzessive Verhalten ist Sucht. Manch einer sieht häufiges Marathonlaufen als Sucht. Hier tritt ja sogar der Schaden auf: Wenn ein Marathonläufer mit seinem Sport aufhört, leidet er in der Regel an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die andere Tendenz ist: Wir können nicht jedes übertrieben häufige Verhalten als Sucht bezeichnen. Es müssen immer die erwähnten vier Kriterien hinzukommen.
Klingt nach akademischem Streit.
Stimmt für die Frage der Einordnung als Krankheit und für die Art einer möglichen Krankheit. Im Prinzip gilt aber für Social Media das gleiche wie für Computerspiele: Wenn man nicht mehr davon loskommt und signifikante Schäden zu sehen sind, wird es kritisch. Ob man das dann Sucht nennt oder nicht, ist eigentlich egal. Es ist immer dann behandlungsbedürftig, wenn jemand sich nicht mehr selbst helfen kann.
Früher „World of Warcraft“, heute „Fortnite“: Gibt es Spiele, die Sie als Einstiegsdroge bezeichnen würden?
Nein. Das sehen Sie schon daran, dass die gleichen Spiele für die Mehrheit der spielenden Bevölkerung kein Problem sind. An der TU Dresden forschen wir seit Jahren zu der Frage, warum einige wenige Spieler oder Alkoholkonsumenten eine Problematik entwickeln und viele andere nicht.
Was haben Sie herausgefunden?
Personen, die durch exzessives Spielen Probleme bekommen, bezeichnen wir als vulnerabel, also besonders empfänglich. Hier spielt teilweise Vererbung eine Rolle, teilweise aber auch frühkindliche Erziehung. Vulnerable Menschen sind hochimpulsiv und denken wenig darüber nach, was ihr Handeln für Konsequenzen hat. Sie spielen noch eine Stunde länger, um das nächsthöhere Level zu erreichen. Dabei verdrängen sie, dass sie eigentlich für die Abiturprüfung lernen oder zur Arbeit gehen müssten. Sie denken nicht über die Zukunft nach, ebenso wenig reagieren sie auf Bestrafung. Wenn solche Personen als Kinder oder Jugendliche in Kontakt mit Spielen kommen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie eine Sucht entwickeln.
Hilft Aufklärung?
Bei vulnerablen Personen nur begrenzt. Da gilt es stattdessen, die Frühzeichen der Sucht zu erkennen und einzugreifen.
Angenommen, der Betroffene hat irgendwann erkannt und akzeptiert, dass er Hilfe braucht. Wie geht es weiter?
Es gibt Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Eine Übersicht aller Ansprechpartner führt die Sächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren (SLS). Dann wird abgeklärt, ob der Betroffene ambulant oder stationär behandelt werden muss. Ist ambulante Psychotherapie möglich, sollte man sich einen Therapeuten in der Nähe suchen. Eine Überweisung braucht man nicht, sondern kann sich direkt für einen ersten Sprechstundentermin anmelden. Die sind mittlerweile relativ schnell verfügbar – innerhalb von vier Wochen sollte man dran sein.
Wie lange wartet man dann noch bis zum Beginn der Therapie?
Leider noch etwas länger. Da können drei Monate, im ländlichen Raum aber auch mal sieben Monate, vergehen.
Wie bleibt man danach abstinent?
Durch Rückfallprävention, die meist Teil der Therapie ist. Man simuliert gedanklich oder direkt am Computer eine Risikosituation für einen Rückfall in alte Muster, um dann das Gelernte umzusetzen: den Rechner ausschalten und etwas mit dem Partner unternehmen zum Beispiel. Gut ist auch, Angehörige, Bekannte und Kollegen einzuweihen. Das Umfeld muss mithelfen.
Das Gespräch führte Andreas Rentsch.