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Und plötzlich steht die Welt still

Ob man will oder nicht: Corona hat uns fest im Griff. Aber ist das gleich ein Grund, nur noch schwarz zu sehen? Die Ruhe bietet ganz neue Möglichkeiten. Ein Essay.

Von Christina Wittig-Tausch
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Palma de Mallorca: Ein Passant überquert die leere Plaza Mayor. Seit zwei Wochen entvölkern sich die öffentlichen Räume in Europa.
Palma de Mallorca: Ein Passant überquert die leere Plaza Mayor. Seit zwei Wochen entvölkern sich die öffentlichen Räume in Europa. © Isaac Buj/Europa Press/dpa

Diese unruhigen, seltsamen, absurden Tage verdichten sich gerade in einem einzigen Bild: Das vom leeren Platz inmitten der Stadt. Seit ein, zwei Wochen entvölkern sich die öffentlichen Räume in Europa. Wie wird es sein, wenn wir in einigen Wochen, Jahren oder Monaten über diese Zeit jetzt nachdenken? Welche Gefühle werden in uns aufsteigen? Vielleicht sitzen wir zum Jahresende gemütlich im Sessel, während beim Fernsehjahresrückblick die Blätter des illustrierten Baums, der den Monat März ankündigt, sprießen und grünen und die Bilder dieser Tage wie ein merkwürdiger Traum an uns vorüberziehen. Die Atemschutzmaske. Die Klopapierrolle. Die leeren Straßen. Vielleicht haben wir Reisekataloge oder den Computer auf dem Schoß und planen den nächsten Sommerurlaub. Vielleicht rufen wir Freunde an und verabreden uns für den nächsten Tag zu einem Treffen im Café oder einem Theaterabend. Lauter Dinge, die jetzt, in der sogenannten Coronakrise, nicht mehr gehen.

Der leere Platz ist eine unheimliche Sache, so unheimlich wie die ganze Situation. Selbst spottende, ironische Gemüter empfinden dies in ihren stillen Stunden. Es gibt Menschen, die lachen immer noch herzhaft über die Klopapier-Hamsterkäufe. Andere häufen seit Wochen Nudeln, Zwieback und Wasservorräte an. Viele sorgen sich um ihre wirtschaftliche Existenz. Manche Menschen verweisen auf die jährlichen Todesraten, wie sie durch Krebs oder Grippe entstehen, und stellen die Frage, inwieweit und warum gerade Massenhysterie herrscht oder doch eher vorausschauende Vernunft. Eine Frage, die sich momentan nicht beantworten lässt.

Viele, sehr viele Menschen saugen jede Corona-Nachricht auf und haben auf ihrem Smartphone jederzeit die Karte der Weltgesundheitsorganisation mit den roten Kreisen greifbar. Stündlich werden die Punkte in Europa, Deutschland und Sachsen zahlreicher und größer. Größer und röter inzwischen als die Kreise in China. Einige Menschen versuchen, sich zu verweigern und die Nachrichten zu ignorieren, um sich ihre psychische Stabilität zu erhalten. Sehr viel häufiger als sonst hört man die Klage über unruhigen, schlechten Schlaf.

Keimzelle und Spiegel der Gesellschaft

Dies geschieht nicht grundlos. Die Straßen, Spielplätze, Sportstätten, Behörden und Flaniermeilen leeren sich. Alles, was uns sonst verbunden hat und das Gemeinwesen ausmacht, kommt zum Stillstand. Der Platz ist Keimzelle und Spiegel der Gesellschaft. Seine Geschichte begann auf Feuerstellen, wo gemeinsam gegessen, getanzt, gesungen, die nächste Jagd und der eine oder andere Eroberungszug geplant wurde. Später entwickelte er sich zum Handelsplatz, wo man tauschte, verkaufte, kaufte – aber auch Hinrichtungen beiwohnte. Oder fahrenden Sängern und religiösen Rednern lauschte. Seit der Französischen Revolution bis ins späte 20. Jahrhundert wurde der städtische Platz zum Schauplatz der großen Revolutionen, von Massenbewegungen und dem Traum, die Menschheitsgeschichte zu ändern, zu verbessern. Wenn man an 1989 denkt, sieht man sofort die Bilder vor sich von Plätzen, auf denen aufgewühlte, bange Menschen dicht an dicht stehen, Wut und Hoffnung im Gesicht.

Danach gerieten die Plätze zunehmend in die Hand der rasenden, weltweit rotierenden Wirtschaftsmaschinerie. Klötze aus Beton, Stahl und Granit wuchsen empor. Voller Läden, Dienstleister und Gastronomie mit bunten, gewaltigen, blinkenden Werbetafeln und einer Fülle an Angeboten, die erkauft werden wollen und müssen, damit die gewaltige Maschine nicht ins Stocken gerät. Dazwischen, eher klein, geradezu erdrückt: Ein paar gestutzte Bäumchen, Bänke und Menschen mit Einkaufstüten in der Hand. Der städtische Platz des 21. Jahrhunderts war kein Ort mehr, an dem sich Bürger treffen, um miteinander zu sprechen, dem Geplätscher von Brunnen zu lauschen, andere Menschen zu beobachten und dabei vielleicht ein kleines Eis zu genießen. Es war der Kulminationspunkt des explodierenden Konsums und des ungehemmten Wachstums, flankiert von Mülleimern, in denen eine wachsende Zahl von Menschen nach Pfandflaschen, Dosen oder sogar Speiseresten suchten.

Italien, Reggio Emilia: Blick ins leere Mapai-Stadion. Aufgrund des Coronavirus fand das Spiel ohne Zuschauer statt. 
Italien, Reggio Emilia: Blick ins leere Mapai-Stadion. Aufgrund des Coronavirus fand das Spiel ohne Zuschauer statt.  © Massimo Paolone/LaPresse/AP/dpa

Vielleicht wird es wieder so sein in einigen Wochen, Monaten oder Jahren. Vielleicht kommt der Hochsommer bald über uns und erledigt mit seinen heißen Temperaturen das Virus. Vielleicht findet sich bald ein Impfstoff, dessen Erfinder Multimilliardär werden wird. Vielleicht zeigen die zunehmenden Quarantänemaßnahmen Wirkung, ebenso die gewaltigen, bis vor wenigen Wochen undenkbaren Einschränkungen der persönlichen Freiheiten, die laut aktuellen Umfragen die Mehrheit der Bundesbürger befürwortet. Vielleicht wird alles nicht so schlimm.

Vielleicht auch nicht. Von den wirtschaftlichen Folgen ist jetzt schon viel die Rede. Was jedoch wird Corona bei uns selbst anrichten, was in unseren Staaten und Lebensgemeinschaften? Es sind ergreifende Nachrichten, die uns derzeit vor allem aus Norditalien erreichen, obwohl Corona längst nicht jene Wirkmacht erreicht, die der Pest über Jahrhunderte zu eigen war. Covid-19 entvölkert bislang nicht ganze Städte und Landstriche, rafft nicht in kurzer Zeit Zehntausende Menschen jeden Alters dahin. Aber wir lesen von überfüllten Kliniken und von Ärzten, die entscheiden müssen, wer noch aktiv behandelt und wer auf die Sterbestation verlegt wird.

Der Kontrollverlust trifft die kontrollsüchtige Gesellschaft

Seitenweise Todesanzeigen, Stapel von Särgen vor den Krematorien und auf Armeefahrzeugen. Gleichsam zum Trost heißt es, dass hauptsächlich Menschen mit Vorerkrankungen und im höheren Lebensalter betroffen sind. Was für eine Entwertung des Begriffes „Trost“ dies ist, schon jetzt, obwohl uns Corona noch nicht einmal voll erwischt hat! Wie wird es sein, wenn ein Herzensmensch stirbt und wir sie oder ihn vielleicht nicht mehr in einer würdevollen Zeremonie verabschieden können? Dieser Tage hat sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben dazu geäußert: „Die Toten – unsere Toten – haben kein Recht mehr auf eine Beerdigung. Es ist unklar, was mit den Leichen unserer Lieben passiert. Was passiert mit menschlichen Beziehungen in einem Land, das sich daran gewöhnen muss, so zu leben, ohne zu wissen, wie lange?“

Niemand kann momentan sagen, wie alles weitergeht, weder Virologen noch Politiker, die verzweifelt daran arbeiten, die Krankheit so lange als möglich in gelenkten Bahnen zu halten und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Früher hätte man gesagt: „Das weiß Gott allein.“ Oder: „Das wird das Schicksal zeigen.“ Solche Sätze traut sich öffentlich schon lange niemand mehr zu äußern, obwohl sie noch genauso wahr sind wie vor 300 oder 3.000 Jahren. Nur haben das viele Menschen zwischenzeitlich vergessen. Die lange Abwesenheit von Kriegen in unserer direkten Umgebung und das hartnäckige öffentliche Verdrängen des Todes machten das möglich. 

In Schulen und Universitäten wird viel mehr Mathematik und Logik gelehrt als Ethik. Metaphysik gilt als gestrige Wissenschaft. Spirituelle Fragen sind absolute Privatangelegenheit. Das ist wichtig und richtig, was die staatliche Organisation betrifft. Aber diese Verdrängung hat dazu geführt, dass die Erörterung von Werten, Glaube und persönlichen Ängsten eher als peinliche Angelegenheit erlebt wurde, nicht mehr als Rüstzeug für Notlagen. Wer in dieser Gesellschaft die Erfahrung von Kontrollverlust machte, sei es durch Arbeitslosigkeit, Unfall, Angstgefühle, Überforderung, Krankheit oder Tod, fühlte sich meist sehr allein.

Südkorea, Seoul: Ein Mann sitzt während eines Gottesdienstes auf einer ansonsten leeren Kirchenbank. Die Kirche beschloss, die Sonntagsgottesdienste durch Online-Gottesdienste zu ersetzen.
Südkorea, Seoul: Ein Mann sitzt während eines Gottesdienstes auf einer ansonsten leeren Kirchenbank. Die Kirche beschloss, die Sonntagsgottesdienste durch Online-Gottesdienste zu ersetzen. © YNA/dpa

Über das Coronavirus informieren wir Sie laufend aktuell in unserem Newsblog.

Die meisten taten bis vor wenigen Wochen so, als hätte der Mensch alles im Griff, und was er noch nicht im Griff hatte, schien nur eine Frage der Zeit, der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Evolution der Maschinen zu sein. Davon lebte diese Gesellschaft, dies war ihr Lebenselixier, bestimmte ihr Menschenbild und ihre Philosophie: Das Gefühl der absoluten Kontrolle über alles und jeden. Selbst über die uralten Menschheitsfragen nach dem Sinn unserer Existenz und von Katastrophen. Nach der Herkunft allen Seins und nach dem Verbleib unserer Seele, unserer Energien, Leidenschaften, Liebe und Träume nach jenem Augenblick, in dem das Herz aufhört zu schlagen. Angst schien eine Angelegenheit von Kindern zu sein oder von hypersensiblen Naturen, für die man einfach nur die richtige Vorlesegeschichte, Pille oder Psychotherapie finden musste.

Man weiß nicht genau: Möchte, muss man bei alledem in der Gegenwartsform schreiben oder in der Vergangenheit? Auch dies ist nicht zu beantworten. Auf jeden Fall trifft der Kontrollverlust die kontrollsüchtige Gesellschaft hart. Gewaltig schwankt der Boden, auf dem die meisten so sicher zu stehen glaubten. Als ereigne sich ein Erdbeben, dessen Ursprung sich dem eigenen Begreifen entzieht. Dazu passt das Bild vom „Epizentrum“ des Virus, das sich nun nach Europa verlagert hat. Vermutlich werden Wissenschaftler aller Disziplinen unsere derzeitige Lage auf Jahrzehnte heranziehen für ihre Forschungen, seien es Psychologen, Soziologen, Philosophen, Historiker, Mediziner, Biologen oder Wirtschaftswissenschaftler.

Was will ich auf Erden?

Wie auch immer die Dinge sich weiterentwickeln – der leere Platz als Symbol für die derzeitige Lage bietet nicht nur Raum für Schreckensvorstellungen und natürliche Ängste, sondern auch für Gestaltung und Neuorientierung. Diese Gestaltung wird vor allem virtuell und intellektuell erfolgen, denn unseren Arbeits- und Spielräumen sind momentan deutliche Grenzen gesetzt. Aber immerhin, in den Wohnungen fließt noch Wasser. Essen, Strom und Internet stehen zur Verfügung, je nach Wohnort auch noch eine kleine Bewegungsfreiheit in Form von Park- und Waldspaziergängen. Der Autor und Mönch Anselm Grün empfiehlt, die Quarantäne als „spirituelles Trainingslager“ und für Lektüre zu nutzen, denn „durch das Lesen entdecke ich meine innere Weite und neue Räume meiner Seele“, schrieb er dieser Tage auf Facebook.

Menschen aller Zeiten, Religionen und Kulturen zogen sich in Krisen, seien sie persönlich oder gesellschaftlich, zurück, um in Ruhe und Abgeschiedenheit zu meditieren. Über Fragen, die im Getriebe des Alltags untergingen. Was ist es, das mich hält? Was ermöglicht es mir, das Leben anzunehmen und positiv zu gestalten, obwohl ich mir bewusst bin, dass der Tod dem jederzeit ein Ende setzen kann? Was ist es, das ich soll und will auf dieser Erde, jenseits von biologischen Notwendigkeiten? Manche wanderten dafür in die Wüste, pilgerten, gingen ins Kloster. Oder zogen sich einfach kurzzeitig in Wälder, Kirchen oder ihre Behausung zurück.

Bayern, Mittenwald: Kein Auto ist nach 09:00 Uhr auf der sonst viel befahrenen Bundesstraße B2 Richtung Grenzübergang Mittenwald-Scharnitz unterwegs. Um die rasante Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen, hatte die Staatsregierung am Montag in Bayern den
Bayern, Mittenwald: Kein Auto ist nach 09:00 Uhr auf der sonst viel befahrenen Bundesstraße B2 Richtung Grenzübergang Mittenwald-Scharnitz unterwegs. Um die rasante Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen, hatte die Staatsregierung am Montag in Bayern den © Angelika Warmuth/dpa

Auch heute gibt es genügend Fragen, und die bisherigen zahlreichen Ablenkungen sind bis auf Weiteres nicht vorhanden. Die von Hochleistungsökonomie geprägten Gesellschaften, einschließlich unserer eigenen, waren lange vor Beginn der Coronakrise an einem Punkt angelangt, an dem man rätselte, was eigentlich geschehen muss, um die Menschheit zur Vernunft zu bringen – und sei es nur für ein paar Jahrzehnte, bis kollektiver Hochmut und Vergesslichkeit wieder ihre Wirkung entfalten und sich das allgemeine Geschnatter erneut um wenig mehr dreht als das neueste Handy, die coolsten Sneaker, das schönste Wellnesshotel, das fantastischste Retreat auf Bali oder die beste Partner-App.

Vielleicht ist dieser Punkt jetzt erreicht. Er bietet zumindest die Chance, innezuhalten, herauszutreten aus dem Zustand des ständigen Getriebenseins. Nun lässt sich ausprobieren, ob eingeschränkte Konsummöglichkeiten zum Weltuntergang oder durchaus zu mehr individueller Zufriedenheit führen können. Für die ökologische Situation der Welt sind die Einschränkungen auf jeden Fall hilfreich; ob sie als gesellschaftliches Modell taugen, wird diskutiert werden müssen. In den Kanälen Venedigs jedenfalls ist das Wasser plötzlich klar. In den chinesischen Städten sehen die Menschen wieder blauen Himmel, weil die Luft nicht mehr so verschmutzt ist.

Es heißt, Krisen fördern das Schlechteste und das Beste im Menschen zutage. Für unsere Vorfahren waren sie nahezu selbstverständlich, wegen der ständigen Nähe von Krieg, Hunger, Tod. Wenn man den Älteren zuhört, Lebenszeugnisse liest oder eigene Erfahrungen reflektiert, weiß man: Krisen lassen sich überleben. Krisen können stärken. Krisen lassen seelisch reifen und können sensibilisieren für das, was wirklich wichtig und aufregenswert ist. Hilfreich im Umgang mit Krisen sind neben Humor und Optimismus Eigenschaften, die zuletzt als preußisch und gestrig verschrien waren. Selbstdisziplin und Pflichtbewusstsein zum Beispiel.

Krisen bringen auch Gutes zutage

Krisen fördern, wie wir derzeit schon sehen, auch Gutes. Das Internet entwickelt sich endgültig zum Markt der Möglichkeiten mit Konzerten, Spieletipps, Sportvideos, Bildungsangeboten und Märchenlesungen; es ersetzt von Tag zu Tag mehr den sich leerenden Platz. An vielen Orten in Deutschland und Europa entstehen Bürgerinitiativen, um Menschen zu helfen, die nicht aus dem Haus sollen oder können. Familien verbringen so viel Zeit gemeinsam wie seit Jahren nicht. Das ist eine Herausforderung, kann aber auch, übersteht man alle Klippen, zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl führen.

Wir werden die freiheitliche Grundordnung, die seit Jahren heftig angezweifelt wird, vielleicht wieder neu zu schätzen lernen für die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die diese Ordnung schützt. Wir werden den Wert eines persönlichen Gesprächs neu entdecken. Wir werden endlich wieder begreifen, wie luxuriös unser Leben war oder ist, auch wenn wir kein umfängliches Bankkonto haben. Ein Leben mit sauberer Luft und sauberem Wasser, mehr als genug Essen, funktionierender Heizung und jederzeit verfügbarem Strom. Ein Leben, bei dem man einfach aus der Haustür treten kann, ohne Angst haben zu müssen. Um ein Eis zu essen oder an der Weltverbesserung zu arbeiten. Hoffentlich bald und auf einem Platz, der dann nicht mehr menschenleer sein wird.