Gemeinsam einsam. Das könnte ein Grund sein, traurig zu werden – wenn Tom Liebscher und Dóra Lucz nicht so positiv denkende Menschen wären. Die beiden Weltklasse-Kanuten führen eine internationale Fernbeziehung. Rio-Olympiasieger Liebscher ist in seiner Heimatstadt Dresden, seine Partnerin bei sich daheim in Budapest. Durch zwei geschlossene Grenzen voneinander getrennt. Und das auf ungewisse Zeit.
Das ist neu an der Situation in der Corona-Krise, denn der 26-jährige Sachse und die ein Jahr jüngere Lucz sind es seit zweieinhalb Jahren bereits gewohnt, immer mal mit Abstand zu leben. Sie sind neun von zwölf Monaten zu Trainingslagern und Wettkämpfen rund um den Erdball unterwegs. Meist getrennt. Gemeinsame Zeit ist für sie ein kostbares Gut. Doch obwohl sie zur unfreiwilligen Wettkampfpause gezwungen sind, können sie sich jetzt nicht sehen. Zumindest nicht direkt. Das letzte Treffen liegt schon zwei Monate zurück.
„Wir haben uns Mitte Februar für fünf Tage gesehen – gewissermaßen auf der Durchreise in Florida. Das war auch nur mit Glück möglich, weil sich unsere Trainingslager genau abgewechselt haben“, erzählt Dóra Lucz. Liebscher verlängerte seinen Aufenthalt um fünf Tage, um Zeit mit seiner Partnerin zu verbringen. „Schon damals wussten wir, dass wir uns sechs Wochen lang nicht sehen werden, weil mein Trainingslager für sechseinhalb Wochen geplant war. Wegen der Corona-Pandemie wurde das aber abgebrochen“, erzählt die Ungarin.
Jetzt kann das Paar sogar spontaner sein
Sonst besuchen sie sich abwechselnd, so oft es die Trainingslager zulassen. „Ökologisch ist das wahrscheinlich nicht besonders wertvoll“, gibt der fünffache Kanu-Weltmeister Liebscher schmunzelnd zu. Mit dem Auto hat er die Strecke nach Budapest schon gemeistert, auch mit dem Flugzeug, seltener via Zug. Der Reisestress macht ihm offenbar nichts aus. Der Ausnahme-Athlet des KC Dresden und Schützling von Landestrainer Jens Kühn kürte sich 2019 in Szeged zum Doppel-Weltmeister. „Ich weiß, was ich will – und mein Trainer vertraut mir.“
Derzeit ist der Trainingsplan heruntergefahren worden, berichtet Liebscher. Alles war auf die Olympischen Spiele in Tokio ausgerichtet, doch die wurden um ein Jahr auf 2021 verschoben. Sie hätten mehr Zeit füreinander, die sie dank der technischen Möglichkeiten zumindest ein wenig nutzen können. „Wir telefonieren fast täglich via WhatsApp oder Facetime“, sagt Liebscher, der sich individuell in Dresden fit hält. „Vorher hatten wir auch viel Kontakt, aber die Telefonate mussten geplant werden, weil wir viele und meist unterschiedliche Trainingszeiten hatten. Jetzt können wir uns öfter und spontaner anrufen“, meint seine Freundin.
Gemeinsam ein virtuelles Trainingsprogramm abzuspulen, ist für sie allerdings keine Option, wenngleich auch das technisch möglich wäre. „Es sieht vielleicht so aus, als würde unsere Beziehung auf vielen gemeinsamen Sportaktivitäten beruhen, aber eigentlich genießen wir auch sehr oft die Momente ohne den Sport. Eine virtuelle Hundeschule mit Dóri’s zwei Schäferhunden ist deutlich witziger“, erzählt Tom Liebscher.
Ein romantisches Ritual bleibt bestehen
Seine Partnerin, zweifache Europameisterin, studiert in Wien Wirtschaftsinformatik, ihr Freund Verkehrsingenieurwesen in Dresden. Liebscher nutzt die Wettkampfpause deshalb auch für Online-Kurse. Trotzdem sagt er: „Momentan ist es ehrlich gesagt sehr unstrukturiert.“ Woran er durchaus Gefallen findet. „Das ist auch mal schön so.“ Liebgewonnene Gepflogenheiten pflegt das Paar trotzdem weiter. „Das Ritual einer Guten-Morgen-WhatsApp besteht schon immer. Jeweils der Erste lässt sich morgens etwas Nettes einfallen“, sagt Dóra Lucz. „Ich finde es einfach schön, dass das Erste, was ich nach dem Aufstehen lese, eine Nachricht von Tom ist, auch wenn er physisch nicht präsent sein kann.“
Natürlich stellt es eine Beziehung auf eine harte Probe, wenn man nicht weiß, wann man sich das nächste Mal nahe sein kann. Darin sehen sie jedoch kein Problem. „Unsere Beziehung ist gefestigt und vertrauensvoll, sonst würde so eine Fernbeziehung nicht funktionieren“, stellt Liebscher fest. „Aber gerade jetzt macht man sich natürlich noch mehr Gedanken, wie man dem anderen die eine oder andere kleine Überraschung bereiten kann.“
Wie sehr er sich danach sehnt, seine Freundin bei sich zu haben, drückt seine einsilbige Antwort auf die Frage aus, wie sehr es ihm fehle, sie einfach mal in den Arm zu nehmen – wie andere Paare eben auch. „Sehr“, sagt er. Zumal die Olympia-Verschiebung auf die Motivation und das Gemüt drückt. „Auch wenn die Verschiebung eine richtige und notwendige Entscheidung war, ist sie schwer zu verarbeiten“, sagt Dóra – und ergänzt: „Da hätten wir uns natürlich mit einer Umarmung noch besser unterstützen können. Ich denke, Tom hätte das auch gutgetan.“ Das Einzeltraining zu Hause falle ihr jetzt sehr schwer, gibt die Ungarin zu. „Eine Umarmung von meinem geliebten Tom würde da viel bewirken.“
Wie lange wird sie darauf noch warten müssen?