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Der stille Genießer vermisst das Knarzen

Michael Sowa ist seit 1947 Stammgast auf der Dresdner Galopprennbahn und jetzt erstmals mit einem Atemschutz dabei. Was ihm beim Geisterrennen fehlt – ein Report.

Von Maik Schwert
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Favoritenerfolg: Jockey Andrasch Starke führt die Stute La La Land im Auktionsrennen zum Sieg.
Favoritenerfolg: Jockey Andrasch Starke führt die Stute La La Land im Auktionsrennen zum Sieg. © Matthias Rietschel

Dresden. Der Renntag beginnt schon mal anders als sonst. Michael Sowa macht frühmorgens das Fenster auf und hört: nichts. „Normalerweise ist da so ein Geknarze der Lautsprecher“, sagt er. Der Dresdner lebt an der Galoppanlage im Stadtteil Seidnitz. „Sonst testen die Ausrichter vor ihren Veranstaltungen den Ton mit Sprechproben.“ Darauf können die Organisatoren am Samstag erneut verzichten, denn auch der zweite Renntag findet aufgrund der Coronavirus-Pandemie ohne Besucher statt.

Der 77-Jährige darf als Mitglied des Dresdener Rennvereins (DRV) dennoch aufs Areal – anders als beim ersten Mal und nur mit Mund-Nase-Schutz. Am Eingang lässt er die Temperatur messen. „Da musste ich an meine Mutter denken. Sie kontrollierte immer, ob unsere Ohren sauber sind, bevor wir aufs Gelände gingen. Renntage waren Feiertage. Da zogen wir die guten Sachen an.“ Das macht Sowa seit 1947 so. Nun sitzt er im hellblauen Hemd, dunklen Jackett mit Pferdeanstecker am Revers, weißer Leinenhose und braunen Schuhen auf der fast menschenleeren Tribüne.

Er klopft auf Holz, um den Klang nachzuahmen

Anfangs genießt der ehemalige Galopptrainer den freien Blick aufs Geläuf. „Keiner läuft in die Sicht.“ Außerdem hört Sowa durch die Ruhe mehr als sonst. „Die Bahn klingt schnell, der Boden ist gut.“ Faire Verhältnisse für alle Starter. Er kennt es auch anders: „Das schmatzende Geräusch auf sehr tiefem, weichem Turf, bei dem nur Sumpfhühner gewinnen, oder das Klappern der Hufe auf knallhartem, knochentrockenem Untergrund, der auch nur was für Spezialisten ist“. Sowa klopft auf Holz, um den Klang nachzuahmen.

Dann lernt er die Nachteile dieser stillen Leere kennen. „Wenn es voller wäre, käme der Wind nicht so rein. Es zieht wie Hechtsuppe.“ Sowa hat sich beim feinen Zwirn vergriffen. „Im Moment würde ich lieber im Sessel sitzen, weil mir kalt ist.“ Doch daheim, wo er bisher die Wettbewerbe im Fernsehen und Internet angeschaut hat, würde ihm etwas fehlen. „Da kann ich es nicht schnuppern.“ Sowa muss Pferde riechen. Dann ist die Welt für ihn in Ordnung. „Kinder sagen, dass es stinkt, ich nicht.“ Für ihn duftet der Dung blumig.

Michael Sowa ist seit 1947 auf der Rennbahn.
Michael Sowa ist seit 1947 auf der Rennbahn. © Matthias Rietschel

Apropos Kinder: Er vermisst ihr Gewusel. „Anderswo müssen sie stillsitzen. Bei uns dürfen Kinder rumrennen.“ Ihm fehlen Familien, die auf der Wiese zwischen Bahn und Tribüne ihre Decken ausbreiten, Körbe abstellen und Picknick machen. „Wir brachten früher auch alles mit: Bemmen, was zum Knabbern, Kaffee und Sekt.“ Dieser Renntag hätte ein Feiertag werden können. Das steht für ihn fest. „Bei dem Wetter wären sicherlich viele auf die Rennbahn gekommen.“

Auch das Programm hätte dafür gesprochen. Schließlich geht es im Auktionsrennen um 52.000 Euro – die höchste Prämie des Jahres. Sie lockt die besten Pferde, Reiter und Trainer an. Am Ende gewinnt die Favoritin: Die von Meistercoach Henk Grewe betreute Stute La La Land mit dem achtfachen Championjockey Andrasch Starke. „Wenn er im Endkampf auftaucht, brauchen die anderen eigentlich nicht mehr weiterzureiten“, sagt Sowa.

„Fußballer spielen ja auch lieber vor 30.000 Zuschauern“

Für ihn ist auch klar: „An so einem Renntag wären bekannte Gesichter gekommen.“ Er erinnert sich an Gäste wie Kabarettist Olaf Böhme, Schauspieler Rolf Hoppe und Sänger Peter Schreier. „Hoppe und Schreier kannten sich mit Pferden aus. Böhme studierte Typen bei uns und entwickelte Sketche daraus.“ Sie seien früher genauso plötzlich und überraschend da gewesen wie 2019 Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier – ohne Bodyguards.

Prominente tun dem Galopp genauso gut wie viele Fans. Ein Kamelrennen lockt 2009 etwa 15.000 Neugierige auf die Rennbahn – Besucherrekord. „Unsere Zunft lebt vom Publikum. Fußballer spielen ja auch lieber vor 30.000 Zuschauern“, sagt Sowa.