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„Mir war dieser Weg zu bevormundend“

Valentin Lippmann (Grüne) kritisiert die Ausgangsbeschränkungen als zu weitgehenden Eingriff in die Freiheitsrechte.

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Valentin Lippmann (29) ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im sächsischen Landtag. Er fordert eine kritische Bewertung der Corona-Rechtsverordnungen, die die Regierung aus CDU, Grünen und SPD erlassen hat.
Valentin Lippmann (29) ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im sächsischen Landtag. Er fordert eine kritische Bewertung der Corona-Rechtsverordnungen, die die Regierung aus CDU, Grünen und SPD erlassen hat. © Sven Ellger

Herr Lippmann, viele Menschen demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen. Teilen Sie deren Kritik an den Freiheitsbeschränkungen?

Ich habe für jeden Verständnis, der Bedenken gegen die Freiheitseinschränkungen hat, selbst wenn sie notwendig waren. Es ist das Wesen des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats, dass er gerade in Krisenzeiten auch vermeintlich alternativlose Entscheidungen gut begründen muss.

Die Bürger dürfen diese selbstverständlich auch infrage stellen. Ich erwarte aber, dass sich Menschen bewusst machen, mit wem sie da teilweise demonstrieren: mit Teilen der AfD und Verschwörungsideologen. Grundrechte verteidigt man nicht, indem man mit Rechtsextremen demonstriert.

Unter den Demonstranten finden sich auch Pharmakritiker und Impfgegner, die eher dem grünen Milieu zuzuordnen sind. Greift die Kritik an diesen Demonstrationen womöglich zu kurz?

Ich erlebe, dass Bürgerrechtler und Menschen, die den Bündnisgrünen nahestehen, berechtigte Kritik an den Grundrechtseinschränkungen haben. Bei den Demonstrationen gibt es eine sehr unterschiedliche Melange. Gerade in Sachsen stammt der große und tragende Teil der Protestler aber definitiv aus dem rechtsextremen Milieu.

Wie kann die Politik darauf reagieren?

Sie muss eine Perspektive entwickeln, wie wir beispielsweise im Falle einer zweiten Welle agieren und weitgehende Grundrechtseinschränkungen vermeiden können. Wir müssen uns die Frage stellen, ob das, was in den vergangenen Wochen beschlossen wurde, alles verhältnismäßig war.

Ich plädiere für eine kritische Bewertung der Maßnahmen und ihrer Umsetzung. Es ist das Recht der Bürgerinnen und Bürger, dies auch gegenüber dem Landtag und der Regierung einzufordern.

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Zittau.
Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Zittau. © Matthias Weber

Haben die Grünen koalitionsintern die im März verhängte Ausgangssperre vorbehaltlos unterstützt?

Die Situation ist bei uns Grünen differenziert bewertet worden. Auch die Frage, wann welche Maßnahmen zurückgenommen werden sollten, wird unterschiedlich beurteilt. In verfassungsrechtlicher Hinsicht waren die Ausgangsbeschränkungen gravierend.

Ich habe nie geglaubt, dass man in der Bundesrepublik innerhalb von Wochen in bisher nie dagewesener Schnelligkeit und Absolutheit in eine Lage kommt, in der zur Bekämpfung einer Notlage nahezu alle individuellen Freiheitsrechte stark eingeschränkt oder sogar aufgehoben werden. Es wird bei uns diskutiert, ob das richtig war und wie wir damit in Zukunft umgehen.

Aber die Landesregierung stand erheblich unter Handlungsdruck, oder?

Wir waren alle in einer schwierigen Situation. Bei dieser Pandemie sind es gerade die persönlichen Freiheitsrechte, die maßgeblich zur Verbreitung des Virus beitragen. Darauf zu setzen, dass man zwischenmenschliche Kontakte vermeidet und Veranstaltungen untersagt, ist legitim, wenngleich schmerzlich.

Allerdings muss es eine enge und klare zeitliche Begrenzung dafür geben. Inzwischen sind viele Beschränkungen wieder aufgehoben worden. Aber es bleibt offen, wie es weitergeht. Wir müssen von Woche zu Woche schauen, welche Einschränkungen zurückgenommen werden müssen, weil sie verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar sind. Anfangs haben die Gerichte die Versammlungsverbote noch gebilligt.

Aber bald wurde klar, dass die Suspendierung eines der elementarsten politischen Rechte nicht haltbar ist. Wir Grüne haben uns in der Staatsregierung sehr früh für die Wiederherstellung des Versammlungsrechts eingesetzt – auch wenn wir jetzt sehen, dass es von Menschen genutzt wird, die teilweise zum Systemsturz aufrufen. Dies spiegelt nun mal Glanz und Elend von Grundrechten wider.

Viele existenzbedrohte Firmen und Selbstständige hätten sich wohl auch gewünscht, dass sich jemand für ihre Rechte einsetzt. Haben sie genug politische Fürsprecher in der Regierung?

Wir haben immer deutlich gemacht, dass auch die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Dauer nicht durchhaltbar ist. Eines der umstrittenen Themen war beispielsweise die Ungleichbehandlung der Unternehmen im Einzelhandel. Es war niemandem vernünftig zu erklären, warum Buchhändler in Sachsen anfangs schließen mussten oder warum Elektronikfachmärkte anders behandelt wurden als Möbelhäuser. Uns ging es darum, möglichst früh Lockerungen für kleine Läden zu ermöglichen.

Ist Gesundheit das höchste Gut?

Selbstverständlich. Leib und Leben sind die höchsten Güter, die der Staat zu schützen zu hat .....

... dem sich alles unterzuordnen hat?

Nein. Es gibt kein Super-Grundrecht, dem alles andere bedingungslos untergeordnet wird. Es braucht eine permanente Abwägung des Gesundheitsschutzes mit den individuellen Freiheitsrechten. Diese Abwägung muss so transparent wie möglich stattfinden, da es hier kein Schwarz und Weiß gibt.

© dpa

Und wenn die Infektionszahlen nicht gesunken wären?

Natürlich spielen die Infektionszahlen bei dieser Abwägung eine Rolle. Glücklicherweise sind die Zahlen gesunken. Aber bei der Frage der Verhältnismäßigkeit ist die Infektionsrate nicht das einzige Kriterium.

Man muss sich die Frage beantworten, wie lange man die Suspendierung von Grundrechten erdulden kann, ohne vom Wesenskern unserer Verfassung abzurücken. So banal es klingt, aber die Frage, die dahinter steht, lautet: Könnt Ihr euch vorstellen, dass der Staat euch verbietet, bis zur Marktreife eines Impfstoffs im nächsten Jahr beispielsweise eure Eltern nicht zu besuchen und eure Freunde nicht zu treffen? Das wird wohl kaum jemand wollen.

Was wäre die Alternative gewesen?

Andere Bundesländer sind einen anderen Weg gegangen als Sachsen und Bayern. Sie haben statt Ausgangsbeschränkungen Kontaktbeschränkungen verhängt. Die Wirkung ist die gleiche. Aber wir hätten uns im Falle von Kontaktbeschränkungen die absurden Debatten über das Sitzen auf Parkbänken und die zulässige Entfernung von der Wohnung beim Fahrradfahren erspart. Mir war dieser Weg zu bevormundend.

Der Sinn und Zweck der Verordnungen wäre auch ohne staatlich festgelegte Entfernungsradien erreichbar gewesen. Wir müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen für den Gesundheitsschutz und für die Freiheitsrechte. Je mehr Menschen verantwortungsvoll mit ihrer Freiheit umgehen, desto weniger Anlass hat der Staat, einzugreifen.

Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte über die Rolle des Staates und die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Es liegt in der Hand des Einzelnen, wie mit unserer Freiheit umgegangen wird.

Ist die Maskenpflicht verhältnismäßig?

Sie gilt mit der aktuellen Rechtsverordnung. Ich glaube, dieser Eingriff wird von den meisten Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert. Aber auch das ist ein Aushandlungsprozess, dem sich eine Regierung stellen muss.

Warum soll es keine Impfpflicht gegen diesen Virus geben?

Das Thema ist umstritten – auch bei uns Grünen. Die Debatte wird uns in den nächsten Wochen und Monaten begleiten. Ich bin der Überzeugung, dass sich sehr viele Menschen freiwillig impfen lassen werden, wenn es einen Impfstoff geben wird.

Ich persönlich könnte in bestimmten Bereichen mit einer Impfpflicht leben, setze aber vor allem darauf, dass die meisten erkennen, dass eine Impfung sinnvoll ist. Die Akzeptanz hängt auch davon ab, ob sich diesbezügliche Verschwörungsideologien weiter verbreiten. Es ist Aufgabe von Politik, sich kruden Thesen und gezielten Falschbehauptungen noch viel stärker entgegenzustellen.

Das Gespräch führte Karin Schlottmann


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