Wöller: "Wir brauchen einen starken Staat"

Herr Wöller, trotz aller Appelle glauben viele Menschen, das Schlimmste sei überstanden. Was bedeutet dies für die Arbeit des Corona-Krisenstabs?
Wir sind in Wahrheit erst am Anfang der Krise. Durch einschneidende Maßnahmen und die Unterstützung der Bürger haben wir uns einen Vorsprung erarbeitet. Aber das Virus ist immer noch da. Wir bekämpfen eine globale, tödliche Pandemie. Erst wenn es einen Impfstoff gibt, sind wir über den Berg. Bis dahin müssen wir mit weiteren Lockerungen sehr vorsichtig sein und gewissermaßen „auf Sicht fahren“.
Viele Menschen freuen sich auf den Sommer und sind genervt von Mundschutz und geschlossenen Geschäften. Wie wollen Sie angesichts der sinkenden Infektionszahlen in Sachsen die Zustimmung aufrechterhalten?
Gesundheit und Leben der Menschen stehen im Vordergrund. Aber tatsächlich haben unsere Entscheidungen Folgen für die persönliche Freiheit und die berufliche Tätigkeit. Sie haben unbestritten negative Folgen für die Wirtschaft. Mit jedem Tag laufen Kosten auf, und damit meine ich auch gesellschaftliche und psychologische Kosten. Der jetzige Zustand kann deshalb nicht von Dauer sein, das ist klar.
Was ist derzeit die drängendste Aufgabe des Krisenstabs?
Der Infektionsschutz liegt in der Zuständigkeit des Sozialministeriums. Gleichwohl ist die Corona-Bekämpfung eine Aufgabe der gesamten Regierung. Das Innenministerium führt den Krisenstab gemeinsam mit dem Sozialministerium. Die Beschaffung von Schutzausstattung ist zurzeit eine unserer wichtigsten Aufgaben. Die Task Force, die aus Mitarbeitern des Innenministeriums und der Polizei besteht, bewältigt die Aufgabe inzwischen erfolgreich. Der Bedarf liegt sachsenweit bei circa 17,5 Millionen Vollschutzmasken, OP-Kitteln und Einmal-Handschuhen wöchentlich. Vor einigen Tagen sind 552.000 FFP-2-Schutzmasken eingetroffen. Wir haben damit zum ersten Mal mehr Masken geliefert bekommen, als in einer Woche benötigt werden. Es gibt ein kleines Licht am Horizont.
Welche Lehre ziehen Sie daraus für die Zukunft?
Im Moment konzentrieren wir uns auf die Bewältigung der Krise. Aber mir liegt die Frage am Herzen, wie es danach weitergeht. Zwei Dinge sind mir wichtig: Wir müssen in Sachsen eigene Produktionslinien für Schutzausrüstungen aufbauen, die uns nicht komplett versorgen müssen, auf die wir aber jederzeit zurückgreifen können. Wir sind auf regionale Versorgungssicherheit angewiesen und dürfen nicht mehr nur auf den niedrigsten Einkaufspreis achten. Außerdem benötigen wir eine strategische Reserve für die kritische Infrastruktur. Diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein.
Warum ist die Katastrophenvorsorge derart aus dem Blick geraten?
Prävention und Krisenbekämpfung gehören zusammen. Allerdings wird wirksame Prävention in der Öffentlichkeit nicht als Erfolg gesehen. Die erfolgreiche Bekämpfung von Krisen wie beim Hochwasser liefern dagegen eindrückliche Bilder. Ich bin Ministerpräsident Michael Kretschmer daher sehr dankbar, dass er im Dezember im Zuge der Regierungsbildung die Bildung einer neuen Abteilung „Bevölkerungsschutz“ ermöglicht hat. Neben den Referaten Brandschutz, Katastrophenschutz und Rettungsdienst gibt es dort auch ein Referat Krisenmanagement. Das bedeutet, wir können nun für diesen lebenswichtigen Bereich auf mehr Personal und Ressourcen zurückgreifen. Der Aufbau ist noch nicht ganz abgeschlossen, aber es ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines stärkeren Zivilschutzes.

Waren Sie überrascht, welche drastischen Befugnisse das Infektionsschutzgesetz dem Staat einräumt?
Nein, erstaunt hat mich die Tatsache, dass wir auf diese Befugnisse zurückgreifen müssen. Wir erleben die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Noch nie waren die Gesellschaft und der Staat in einer solchen Art und Weise herausgefordert. Klar, es gab das Hochwasser. Aber das war ein lokal begrenztes Ereignis und hat nicht im ganzen Land das Leben eines jeden Einzelnen bedroht. Allerdings: Wir können den Virus nicht sehen, nicht hören, nicht riechen. Das verführt die Menschen dazu, bei schönem Wetter am Wochenende zu fragen, warum der Biergarten nicht öffnen darf. Umso mehr hat es mich gefreut, dass sich die übergroße Mehrheit an die strengen Regeln gehalten hat. Die Akzeptanz ist sehr hoch, aber das wird verständlicherweise nicht unendlich lange anhalten. Insofern loten wir mit Blick auf die Infektionsentwicklung aus, wann wir welche Maßnahme lockern können.
Müssen sich alle Bevölkerungsgruppen nach der Corona-Krise auf Wohlstandsverluste einstellen?
Wie es nach der Krise aussieht, wissen wir nicht. Alle diejenigen, die behaupten, sie wüssten es, sind sehr mutig. Eines kann man wohl sagen: Es wird vieles anders sein als vorher. Je länger dieser Zustand dauert und mit wirtschaftlichen Einschränkungen verbunden ist, desto schwieriger wird es, aus dem Tal herauszukommen. Darauf hat sich der Staat eingestellt. Der Bund hat in kürzester Zeit mehr als 100 Milliarden Euro bereitgestellt, und auch der sächsische Landtag hat einen Kreditrahmen für Rettungsmaßnahmen von sechs Milliarden Euro bewilligt.
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Wird die Fußball-Bundesliga am 9. Mai mit Geisterspielen weitergehen?
Ich bin vorsichtig. Die Liga hat ein Konzept für den Infektionsschutz vorgelegt. Vor Anfang oder Mitte Mai halte ich die Wiederaufnahme des Spielbetriebs nicht für sinnvoll. Politik und DFL diskutieren das gerade. Gleichwohl wächst der wirtschaftliche Druck zu spielen. Was mich umtreibt, ist die Gefahr, dass sich Fans während der Spiele vor den Stadien versammeln. Dazu sage ich ganz klar: Wenn das geschieht, kann das zum Abbruch des Spiels führen.
Die Profi-Fußballer spielen zu lassen, aber die Kinderspielplätze weiterhin zu schließen, dürfte nicht einfach zu vermitteln sein.
Ja. Deshalb diskutieren wir den Termin auch noch innerhalb der Bundesländer.
Wird der EU-China-Gipfel im Herbst in Leipzig wie geplant stattfinden?
Wir wissen es nicht. Die Entscheidung liegt bei der Bundesregierung und der EU- Kommission. Auch bei dieser Frage gilt die Devise: Wir fahren auf Sicht. Die sächsische Polizei steckt mitten in den Vorbereitungen. Aber es ist alles andere als sicher, dass dieser Gipfel tatsächlich stattfinden wird. Wir haben uns bundesweit darauf verständigt, dass Großveranstaltungen bis 31. August abgesagt werden. Deshalb wird es mit zunehmendem Zeitablauf unwahrscheinlicher, dass es wie geplant zu dem Treffen im September kommen wird.
Wie wird die Corona-Krise das Land verändern?
Das ist eine Frage, mit der wir uns als Regierung ganz sicher beschäftigen müssen. Die Menschen in Ostdeutschland sind bedingt durch die Einheit flexibler und anpassungsfähiger. Das ist in der Krise ein Vorteil. Hinzu kommt, dass die Akzeptanz staatlicher Eingriffe hier größer ist, wenn sie dem Schutz dienen. Das ist eine Erkenntnis. Das zweite Thema betrifft die Gemeinwohlorientierung. Ich bin überzeugt, dass sie künftig eine größere Rolle spielt. In der Vergangenheit haben Politiker Wert gelegt auf Flexibilisierung, Effizienz, Deregulierung und Privatisierung. Das hat uns in eine Sackgasse geführt. Dieser Weg ist gescheitert. Wir brauchen einen starken Staat, aber einen sich selbst beschränkenden Staat.
Was heißt das?
Wir brauchen einen Staat, der die Freiheitsrechte achtet und schützt und in der Daseinsvorsorge, also Schule, Gesundheit, Sicherheit und Infrastruktur, stark ist. Aber auch die Wirtschaft muss umdenken. Es genügt nicht mehr, dass Unternehmen produzieren und Gewinne erwirtschaften. Sie werden daran gemessen werden, ob sie darüber hinaus einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Da sind auf der einen Seite große Unternehmen, die trotz staatlicher Unterstützung keine Miete für ihre Filialen mehr zahlen wollen. Auf der anderen Seite gibt es die Porsche AG. Dieses Unternehmen hilft uns, mit seiner in China vorhandenen Infrastruktur an Logistikdienstleistern, Schutzausrüstung nach Sachsen geliefert zu bekommen. Zwei Porsche-Mitarbeiter unterstützen uns im Krisenstab – auf vertraglicher Basis, aber unentgeltlich – bei der Suche nach seriösen Lieferanten und beim Transport. Wir werden eine Diskussion über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Unternehmen bekommen, und darauf freue ich mich.
Wenn der Staat und die Regierung weniger Wert auf Effizienz legen, wird es nach aller Erfahrung für die Steuerzahler teuer.
Jein! Die Krise zu bewältigen, kostet sehr viel mehr Geld als vorzusorgen. Etwas zu reparieren, ist immer teurer. Es fällt der Öffentlichkeit meistens nicht auf, wenn ein Schaden dank kluger Vorsorge nicht eingetreten ist. Niemand wird sagen, danke, dass ihr das verhindert habt. Aber wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist das Geschrei groß und die Folgenbeseitigung teuer. Wir können nicht alles Schlechte verhindern, aber in Sachen Prävention haben wir noch deutlich Luft nach oben.
Das Gespräch führte Karin Schlottmann.