Das Ende der Gewissheiten

Am Morgen führe ich ein Gespräch mit einem Arzt, der 1970 an der Medizinischen Akademie in Dresden arbeitete. Ich frage ihn, ob er sich erinnern könne, dass es die Hongkong-Grippe in der DDR gab. Während meiner Recherche für einen Beitrag, den ich diese Woche schreiben will, sprach ich inzwischen mit fünf Medizinern, die Ende der 1960er-Jahre praktizierten. Bisher habe ich nur zwei Sachsen gefunden, die in der Zeit an der Grippe erkrankt waren, es soll bis zu acht Millionen Patienten mit Atemwegserkrankungen von 1969 bis 1971 gegeben haben. Sollte sich jemand daran erinnern, dann wäre es schön, er meldet sich per Mail bei mir.
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Vor dem Mittag fahre ich nach Pirna, treffe mich mit einem Redakteur des MDR. Wir drehen einen kleinen Fernsehbeitrag zur Aktion „Sächsisches Wort des Jahres“. Ich bekam seit vergangener Woche über 80 Mails mit Wortvorschlägen. Die Situation sei „belämmrd", schreibt beispielsweise SZ-Leserin Erika Heymann und meint, die Vokabel müsse gewinnen. „Vorhunzd“ würde die Gegenwart perfekt beschreiben, erklärt Marietta Welke und Henry Uhlemann schlägt eine Bezeichnung der Mundschutzmaske vor: „Schnudndeckl“.
Nach Meinung der Sächsinnen und Sachsen existiert ein vierstufiges Einschätzungvokabular, um ihr Befinden zu beschreiben. „Gehd schon“ bedeutet, es ist alles in Ordnung. Geht es weniger gut, heißt es: „Muss doch.“ Ist der persönliche Zustand mittelmäßig, sagen Sachsen: „Nüdzd doch nischd.“ Und wenn es schlecht geht, heißt es: „Frache ni.“
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Als ich auf dem Rückweg zur Heimarbeit an einem Supermarkt halte, setze ich mir den Mundschutz auf. Ich staune, wie diszipliniert alle ihre Masken tragen und welche Vielfalt herrscht. Gleichzeitig muss ich daran denken, dass ich solche Szenen aus irgendwelchen Büchern und Filmen kenne. Als ich zu Hause ankomme, entdecke ich in meinem Mailfach einen Literaturtipp. Ich möge mal das Buch Louise Welsh „V5N6. Tödliches Fieber“ lesen, das würde mir die Augen öffnen. Die britische Schriftstellerin schreibt von einem Schwitzfieber, an dem in London die Einwohner innerhalb weniger Tagen sterben, die Krankenhäuser und Leichenhallen sind überfüllt. Selbst der Premierminister erkrankt an dem Virus.
Die Geschichte aus dem Jahr 2016 wirkt, als hätte die Autorin die Zeit vorweggenommen. Ein Thriller, der an die Zerbrechlichkeit der Zivilisation erinnert. Ich bin mir unsicher, ob ich das lesen will, denn ich erlebe ja gerade, wie schnell angenommene Gewissheiten verloren gehen. Ich muss an Goethes Faust denken und wie Mephistopheles zu ihm sagt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft! Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“
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Ein Freund, der als selbstständiger Grafiker arbeitet, hat bei der Stadt Dresden Soforthilfe beantragt und bekam folgende Mail zurück.
Ich zitiere hier aus dem Schreiben des Teams der Soforthilfe der Landeshauptstadt: „Die Zuwendungsvoraussetzungen der Soforthilfe bedingen das Vorliegen eines Liquiditätsengpasses, welcher dann vorliegt, wenn die Liquidität für die Deckung der unternehmerischen Fixkosten nicht mehr ausreichend zur Verfügung steht. Konkret heißt dies, dass die finanziellen Mittel fehlen und auch keine Rücklagen vorhanden sind, um allen laufenden Zahlungsverpflichtungen (z. B. Personalkosten und Sozialabgaben, Miete, Wareneinkauf, Versicherungen, Wartungskosten u. a.) fristgemäß nachzukommen (vgl. Fachförderrichtlinie Punkt 7.1 Antragserfahren; Absatz 3, Buchstabe d). Wir bitten daher um Vorlage folgender Dokumente: Auszüge Ihrer Geschäftskonten zum 31. Dezember 2019 und 31. März 2020, eine betriebswirtschaftliche Auswertung (BWA) für das gesamte Jahr 2019, inkl. Summen- und Saldenliste der Bestands- und Erfolgskonten (bzw. Einnahmeüberschussrechnung / Jahresabschluss für 2019) sowie der geschätzte Betrag bzw. Prozentanteil der Umsatzeinbußen (in Relation zum geplanten Jahresumsatz 2020 oder zum Umsatz 2019 oder zum Vergleichszeitraum 2019). Sollten sich seit der Antragsstellung wesentliche Veränderungen in Ihrer wirtschaftlichen Lage ergeben haben (z. B. Steuerstundung, Zuschüsse des Bundes o. ä.), bitten wir ebenfalls um Mitteilung. Abschließend möchten wir Sie darauf hinweisen, dass jederzeit die Möglichkeit einer Antragsrücknahme besteht.“
Als ich meinen Freund frage, wie es ihm geht, sagt er: „Frache ni!“.
"Die Tage mit Corona" - die Kolumne von Peter Ufer:
- Tag 1: Einfach mal anhalten, wenn die Welt durchdreht
- Tag 2: Wie die Notbremsung eines Düsenjets
- Tag 3: Ostern wird auf Weihnachten verschoben
- Tag 4: Musiker in der Rhabarberernte
- Tag 5: Abstand schafft wieder Nähe
- Tag 6: Hat Dresden schon ein heimliches Corona-Denkmal?
- Tag 7: Es ist richtig, das Falsche zu tun
- Tag 8: Die Konjunktur des Konjunktivs
- Tag 9: Eine Hand wäscht die andere
- Tag 10: Jetzt geht es ans Eingemachte
- Tag 11: Osterspaziergang im Alleingang
- Tag 12: Jedes Jahr Quarantäne für alle
- Tag 13: Allein, allein, wir sind nicht allein
- Tag 14: Ostern wird eine Eierei
- Tag 15: Wandern wird zur Grenzerfahrung
- Tag 16: Es gilt das Vermummungsgebot
- Tag 17: Muddeln gegen das Unwohlsein
- Tag 18: „So herrscht im Reich politisches Gefurze“
- Tag 19: Der Kapitalismus ist auf Kante genäht
- Tag 20: Eselswurst mit Mandarinen
- Tag 21: Dä Infaulenzsche abwenden