Drei Dynamos und ihre Erfahrung mit Geisterspielen

Dresden. Die Erinnerung verblasst, und das findet Niklas Kreuzer überhaupt nicht schlimm. So gern denkt er nämlich nicht zurück an dieses Spiel im leeren Stadion vor gut fünf Jahren. "Es war nicht so ein schönes Ereignis", sagt der 27 Jahre alte Profi von Dynamo Dresden. Im Februar 2015 mussten die Schwarz-Gelben zu Hause gegen Erfurt "unter Ausschluss der Öffentlichkeit" spielen, wie es im Urteil des Sportgerichts offiziell hieß. Kein anderer Verein in Deutschland hat mehr Erfahrung mit Geisterspielen um Punkte als die SGD.
"Das ist für mich nicht der Fußball, der Spaß macht", sagt Kreuzer: "Die Fans gehören genauso dazu wie die 22 Mann auf dem Rasen oder die Schiedsrichter. Ohne sie ist es etwas komplett anderes." Die Atmosphäre wird er am Sonntag vermissen, auch wenn er froh ist, die quälende Zeit der Quarantäne endlich hinter sich zu bringen und, sofern ihn der Trainer aufstellt, endlich spielen zu können. Mit der Partie gegen den VfB Stuttgart beginnt für Dynamo die Aufholjagd im Kampf um den Klassenerhalt in der zweiten Liga noch mal neu.
Dann wird auch Robert Koch vor dem Fernseher sitzen in seinem Haus in Melaune bei Löbau, das er gerade ausbaut. Als Profi hat er gleich zwei Spiele ohne Zuschauer erlebt: im Dezember 2011 in Rostock und drei Monate später in Dresden gegen Ingolstadt. Ursprünglich sollte Dynamo für eine Saison aus dem DFB-Pokal ausgeschlossen werden, weil beim Pokalspiel in Dortmund massiv Feuerwerkskörper gezündet worden waren.

Doch auch das abgemilderte Urteil empfanden nicht nur viele Fans als ungerecht. Aus Protest oder Trotz kauften sich 41.738 Zuschauer ein Geisterticket - und erhielten trotzdem keinen Zutritt. Viel verpasst haben sie vor verschlossenen Türen nicht. "Ich weiß noch, dass ich ein, zwei Chancen verballert habe", erzählt Koch, "aber das hatte irgendwie Freundschaftsspiel-Charakter wie im Trainingslager in der Türkei, wenn wir auf einer Hotel-Anlage gespielt haben. Bei diesem 0:0 hatte keiner den richtigen Zug zum Tor. Die Stimmung hat einfach gefehlt, denn davon haben wir gerade in Dresden gezehrt und gelebt", sagt der 34-Jährige, der inzwischen als Übungsleiter die A-Junioren bei Eintracht Niesky betreut und sich als Finanzberater selbständig gemacht hat.
Was die Fortsetzung der Spiele in der Corona-Zeit angeht, ist er hin- und hergerissen. "Die wirtschaftliche Seite ist natürlich wichtig, aber Klubs in der ersten und zweiten Liga sollten finanziell so aufgestellt sein, um in der Krise ein paar Monate überleben zu können", sagt Koch. "Wenn die Saison im Eishockey und Handball abgebrochen worden ist, in anderen Sportarten gar nicht beginnt: Wieso war das im Fußball nicht möglich?"
Stimmung der Fans treibt an, wenn nichts mehr geht
Allerdings hilft es gerade Dynamo nicht, mit der Entscheidung zu hadern. "Vom Kopf her sind wir alle bereit", betont Kreuzer. "Wir wissen, was auf uns zukommt und werden dafür mental gewappnet sein." Wirkliche Tipps kann er seinen Mitspielern aus seiner Erfahrung nicht geben, außer, dass es eine Umstellung wird, spürbarer als für manchen Konkurrenten, meint er: "Unsere Fans sind deutschlandweit bekannt für eine extrem krasse Stimmung und geile Choreos. Das kann dir schon mal die zweite Luft geben, wenn du denkst, es geht nichts mehr." Es dürfe sich jedoch nicht negativ auswirken, wenn der Push von den Rängen ausbleibt. "Wir müssen zusehen, dass wir trotzdem Spannung aufbauen", fordert Kreuzer.
Das sieht auch David Solga als die Herausforderung. Auch er hat 2011/12 die Geisterspiele mit Dynamo erlebt und ist jetzt Co-Trainer bei der U23-Auswahl von Borussia Dortmund. "Jeder Fußballer ist anders, nimmt das Drumherum anders wahr", sagt der 37-Jährige. "Ich hatte nie ein Problem, mich zu motivieren. Aber natürlich fehlt das, was mit der Stadion-Atmosphäre mental und emotional mitkommt und das Spiel beeinflusst." Wie jedes Wort und jede Ballberührung durchs leere Rund schallt, sei besonders komisch gewesen. "Darauf einstellen kann man sich nicht, nur dran gewöhnen. Beim zweiten Mal war es nicht mehr ganz so verstörend", sagt Solga.
Trotzdem erinnert er sich gerne an das Erlebnis gegen Ingolstadt, also weniger an das Spiel. "Wir haben auf dem Platz schon mitbekommen, dass draußen einiges los ist", erzählt er. Was damals von der aktiven Fanszene initiiert wurde, ist diesmal wegen des in der Corona-Pandemie gebotenen Abstands natürlich tabu, wird so auch nicht stattfinden. Die Ultras lehnen diese Geisterspiele ab. Seinerzeit versammelten sich jedoch mehr als 3.000 Anhänger erst zu einem Protestmarsch und dann als Kulisse vor dem Stadion. "Wir kommen hinter dem K-Block raus und von der Lennéstraße aus jubeln uns die Massen frenetisch zu", erzählt Koch, und man spürt förmlich, wie er wieder eine Gänsehaut bekommt, als er daran denkt. "Wir hatten nur unentschieden gespielt, aber das hat an dem Tag wohl keinen interessiert. Das war schon cool."
Auch bei Solga sind vor allem diese Bilder hängen geblieben. "Das war ein sensationelles Gefühl, so ähnlich wie beim Aufstieg (in die zweite Liga 2011/d. Red.), als wir mit dem Bus durch die Stadt gefahren sind." Die Zeit in Dresden sei sowieso die schönste in seiner Karriere gewesen. "Ich bin sehr dankbar für das, was ich in den vier Jahren erleben durfte - sogar für die Erfahrung mit Geisterspielen." Die seien zwar auch jetzt nicht schön und schon gar keine Dauerlösung, aber im Moment besser als nichts.
Das Ziel Klassenerhalt muss Motivation genug sein
Für Kreuzer werden sie zumindest vorübergehend zur Normalität. "Es ist eine neue Situation", meint er, "aber mal ehrlich: Keiner von uns hat angefangen mit dem Fußballspielen vor 30.000 Leuten." Angesichts der Tabellensituation müsse es sowieso egal sein, was ringsum passiert. "Es wäre etwas anderes, wenn wir im Mittelfeld stünden, nach oben und unten nichts mehr geht. Aber wir wollen da unten raus, den Klassenerhalt schaffen. Das muss Motivation genug sein."
Das leere Stadion sei sicher gerade bei den Heimspielen ein Nachteil, vermutet Koch, erinnert aber auch daran, dass Dynamos Heimstärke "ein bisschen verloren gegangen" war. Vielleicht kann es sogar gut sein, wenn die Spieler den Druck von außen jetzt nicht direkt zu hören bekommen. "Was mir mehr Sorgen macht, wie sie diese Terminflut überstehen. Andererseits: Wenn sie einen positiven Lauf bekommen, können sie auf der Euphoriewelle reiten. Dann sagst du: Geil, in drei Tagen gewinnen wir wieder", meint Koch, einer der Aufstiegshelden von 2011. Den Gedanken, dass sich die Spirale auch anders drehen könnte, schiebt er bewusst beiseite.
Kreuzer sowieso. "Es ist schon eine sehr spezielle Situation, mit einer Woche Vorbereitung ein solches Monsterprogramm abliefern zu müssen", sagt er. Neun Spiele in 29 Tagen, danach womöglich die Relegation. Trotzdem überwiegt bei ihm die Vorfreude auf den Wiedereinstieg am Pfingstsonntag gegen Stuttgart. "Wir müssen das Feuer auf den Platz bringen, auch wenn es ungewohnt ruhig sein wird."
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