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Wie der Corona-Protest in Pirna eskalierte

200 Menschen gehen gegen Beschränkungen auf die Straße. 30 werden gewalttätig. Pirnas OB findet deutliche Worte - im Gegensatz zu vielen anderen.

Von Franziska Klemenz & Thomas Möckel
 7 Min.
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Corona-Protest in Pirna: 30 Gewaltbereite haben sich unter die Demonstranten gemischt.
Corona-Protest in Pirna: 30 Gewaltbereite haben sich unter die Demonstranten gemischt. © Daniel Förster

Am 15. Mai dürfen die Gaststätten wieder öffnen, Pirna schafft für die Lokale sogar mehr Platz im Außenbereich, damit sie keine Plätze einbüßen. Am Freitag will die Stadt mit den Gastwirten anstoßen auf den Neustart, Pirna will Bilder des Aufbruchs senden.

Doch die Bilder, die derzeit von Pirna bundesweit die Runde machen, sind ganz andere: Bilder von gewalttätigen Corona-Demos, Unruhestiftern, Festnahmen, verletzten Polizisten. 

Seit Wochen schon ist die Stadt ein Hotspot für Protestierende, die gegen Corona-Verbote und eingeschränkte Grundrechte auf die Straße gehen, dabei aber auch Verschwörungsmythen und krude Theorien verbreiten. Überwiegend verlief der Protest friedlich, doch inzwischen ist eine neue Stufe erreicht: die Gewalt eskaliert. 

Schon am Sonntag vor einer Woche kam es bei einem unangemeldeten sogenannten "Spaziergang" zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, Polizisten wurden angegriffen und verletzt, es gab Festnahmen. 

Beamte wurden wüst beleidigt

Am 13. Mai nun drehte sich die Spirale der Gewalt weiter. Am Abend waren erneut 200 Teilnehmer zu einem unangemeldeten und nicht genehmigten Spaziergang auf dem Pirnaer Markt und in der Altstadt zusammengekommen. 

Die Polizei war mit 190 Einsatzkräften vor Ort, an mehreren Stellen versuchten sie, die Teilnehmer aufzuhalten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Seit Wochen schon verfolgt die Polizei bei derartigen Demos die Strategie: kommunizieren und deeskalieren. Immerhin hätte es die Chance gegeben, dass jemand eine Kundgebung anmeldet und den Protest in geordnete Bahnen lenkt. "Dieses Mal ist das allerdings nicht geglückt", sagt Polizeisprecher Marko Laske. 

Die Protestierenden ließen sich von der Polizei nicht aufhalten, sie drängten sich an den Beamten vorbei und schoben sie beiseite. Dabei seien die Einsatzkräfte laut Laske wüst beleidigt worden. Demonstranten bezeichneten die Polizisten als "Merkels Schergen", ein Mann beschimpfte eine Polizistin als "Fotze", eine andere Gruppe belegte die Beamten mit "Schämt euch"-Rufen.

Polizeibekannte Gewalttäter

Dann eskalierte die Situation: Mehrere Demonstranten stemmten oder warfen sich gegen die Polizisten. Einzelne versuchten immer wieder, die Reihen der Polizei zu durchbrechen. Schnell war klar: Unter die Protestierenden hatte sich eine Gruppe von etwa 30 Gewaltbereiten gemischt. 

Als die Polizisten wenig später die Gruppe erneut aufhalten wollte, attackierten die Gewaltbereiten die Beamten. Laut Laske hatte sich einer von ihnen in Boxer-Stellung vor einem Polizisten aufgebaut und versuchte, ihn anzugreifen. Bei den Ausschreitungen wurde ein Beamter verletzt. 

Die Polizei leitete acht Strafverfahren ein, wegen Landfriedensbruchs, wegen tätlichen Angriffs auf Vollzugsbeamte, wegen Widerstands und wegen Beleidigung. Die acht Personen, gegen die die Verfahren laufen, sind laut Laske alles Deutsche im Alter von 23 bis 36 Jahren. "Ein Großteil von ihnen ist wegen einschlägiger Gewaltdelikte bereits polizeibekannt", sagt der Behördensprecher. 

Demos ziehen Gewaltbereite an

Festnahmen gab es keine, aus Sicht der Polizei sei der körperliche Zwang stets das letzte Mittel. Bei einem Zugriff hätte zudem die Gefahr bestanden, dass friedliche Demonstranten mit involviert werden, das galt es unbedingt zu vermeiden. 

Die Polizei hat indes das Geschehen am Mittwoch per Video dokumentiert, das Material wird jetzt ausgewertet. "Es ist gut möglich, dass sich daraus noch weitere Ermittlungsverfahren ergeben", sagt Laske. 

Offenbar wird diese Gewalt in den meisten Fällen von außen nach Pirna getragen, bei jenen Demos, wo es Ausschreitungen gab, waren viele Auswärtige zu beobachten. Zur genauen Herkunft kann die Polizei keine Aussage treffen, weil nur von wenigen die Identität festgestellt wurde. Fest steht aber: "Derartige Situationen wie die in Pirna ziehen erlebnisorientierte, gewaltbereite Jungerwachsene an", sagt Laske. Sie würden die Demos als ihre Bühne nutzen. 

Pirnas OB: Eindeutig eine Grenze überschritten

Pirnas Oberbürgermeister Klaus-Peter Hanke (parteilos) hat die neuerlichen Ausschreitungen abermals scharf verurteilt. "Das was sich am Mittwoch in unserer Stadt abgespielt hat, hat nichts mehr mit freier Meinungsäußerung zu tun. Ich kann verstehen, wenn man Kritik zu den Corona-Maßnahmen äußert. Aber Polizisten anzugreifen, das geht entschieden zu weit", sagt der Rathauschef. Diese Bilder wolle er nirgends sehen, weder in Pirna noch in irgendeiner anderen Stadt. 

Aus Sicht des Stadtoberhauptes gehe es den Gewaltbereiten gar nicht darum, gegen Corona-Einschränkungen zu protestieren. Es hätten sich vielmehr Gewaltbereite unter die Demonstranten gemischt, die das System in Gänze ablehnen und nur darauf aus seien, zu eskalieren. 

Gegen Kritik zu den derzeitigen Corona-Maßnahmen sei laut Hanke nichts einzuwenden. Sie müsse sich aber an geltende Regeln und Gesetze halten und dürfe schon gar nicht in Gewalt münden. 

Ist Pirnas Bürgerdialog gescheitert?

Angesichts der Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen hatte Hanke kürzlich einen Bürgerdialog initiiert, um auch mit Kritikern ins Gespräch zu kommen. Auch nach den neuerlichen Geschehnissen sieht er diese Initiative keineswegs als gescheitert an. "Miteinander reden darf niemals scheitern. Wir dürfen denjenigen Menschen, die die Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen und dann doch die ausgestreckte Hand zu Dialog ablehnen, nicht das Feld überlassen", sagt er. 

Aus diesem Grund werde die Stadt auch weiterhin in verschiedenen Formen das Gespräch suchen. Das sei laut Hanke die einzige Möglichkeit, Differenzen und Spannungen in der Gesellschaft auszuräumen. "Meine Tür stand und steht allen Bürgern dieser Stadt für Gespräche offen", sagt der Rathauschef. 

Innenminister kritisiert die Ausschreitungen

Auch Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) hat die Ausschreitungen in Pirna scharf kritisiert. "Wir haben dabei erstmals in Sachsen eine größere, geschlossene gewaltbereite Gruppe von Hooligans bei einer solchen Demonstration erlebt. Das ist ein Indiz dafür, dass der legitime Protest gegen das staatliche Vorgehen in der Corona-Krise von Gewaltbereiten genutzt wird."  Das Beispiel in Pirna zeige, dass viele Teilnehmer „verbal gar nicht mehr erreicht werden“ könnten.

Gewalt habe nichts mehr mit legitimem Protest und Versammlungen zu tun. Gewalt sei klar zu verurteilen. Er kündigte an, dass die Polizei in solchen Fällen konsequent einschreiten wird.  Es sei daher aber auch jeder Teilnehmer von solchen Veranstaltungen aufgefordert zu hinterfragen, wer neben ihm in einer Demonstration mitlaufe. „Wo Gewalt verübt wird und Polizisten angegriffen werden, da befinden Sie sich auf der falschen Veranstaltung und sollten sich klar davon distanzieren“, sagte Wöller. 

AfD distanziert sich von den Gewaltbereiten

Die AfD, die mehrere der Spaziergänge in Pirna initiiert und unterstützt hat, wehrt sich indes gegen den Vorwurf, sie habe damit den Nährboden für die Gewaltbereiten geschaffen. "Ich sehe mich nicht als Auslöser", sagt AfD-Stadtrat Tim Lochner, der letztens eine Demo mit 350 Teilnehmer angemeldet hatte, die weitgehend friedlich verlief.

Er halte Protest gegen Corona-Einschränkungen nach wie vor für gerechtfertigt. Mit seiner Initiative habe er versucht, diese Impulse aus der Bevölkerung zu kanalisieren. "Mit der zunehmenden Gewalt ist aber jetzt die Chance vertan, Bilder der Veränderung aus Pirna zu senden", sagt Lochner. Er distanziere sich ausdrücklich von diesen Gewaltbereiten. Bei den Demos, bei denen es die schweren Ausschreitungen gab, sei er nicht dabei gewesen. 

Es sei schade, dass sich der einst als friedlich angedachte Protest nun nicht mehr kontrollieren lasse. "Die Gewalt", sagt Lochner, "macht unsere Ursprungsidee kaputt."

Das Schweigen der anderen

Die bürgerliche Mitte in Pirna schweigt unterdessen zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen, bis auf wenige Ausnahmen haben sich weder Stadträte noch andere zivilgesellschaftliche Kräfte gegen diese Eskalation artikuliert. 

Pirnas Rathauschef wünscht sich in dieser Hinsicht mehr Engagement. „Pirnas Zivilgesellschaft war schon immer gut darin, in schwierigen Zeiten zusammenzuhalten und nach Krisen loszulegen", sagt Hanke. Diese Krise sei aber anders und vor allem weniger greifbar. Aus diesem Grund scheine vor allem die bürgerliche Mitte derzeit selbst nach der richtigen Einordnung der derzeitigen Situation zu suchen. "Ich kann dieses Suchen nach dem richtigen Weg verstehen", sagt Hanke, "wünsche mir aber dennoch, dass klar gegen gewaltbereite Störer Stellung bezogen wird."

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