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Corona, Protest und die Demokratie

Parlament, Opposition und Medien haben in der Krise zentrale Aufgaben versäumt. Demos, auch dubioser Art, sind die legitime Folge. Ein Gastbeitrag.

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Außerparlamentarische Opposition: Demonstration gegen die Corona-Politik am 1. August in Berlin.
Außerparlamentarische Opposition: Demonstration gegen die Corona-Politik am 1. August in Berlin. © Christoph Soeder / dpa

Von Wolfgang Merkel

Ein Virus erreicht im Februar 2020 den europäischen Kontinent. Es kommt aus dem fernen Osten. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) verpasst ihm den Namen Covid-19. In Deutschland ist sein Gattungsbegriff Corona geläufiger. Corona entwickelt sich rasch zu einer Pandemie. Weltweit, aber nicht zuletzt in Europa, schüttelt er die Volkswirtschaften, Gesellschaften und die Politik durcheinander.

In Deutschland zeichnen sich im März die Konturen einer dramatischen Gesundheitskrise ab. Düstere Prognosen sprechen von Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden von Toten. Die Regierung handelt. Erst im Bund, dann in den Ländern. Mitte März wird der Lockdown beschlossen. Flächendeckend für das ganze Land. Er betrifft Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten, Handel, Industrie, Sport, Kirchen und Freizeit. Grundrechte werden ausgesetzt. Ein präzedenzloser Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

War dieses Vorgehen erfolgreich, legitim, angemessen und verhältnismäßig? Hielten die demokratischen Institutionen? Wo war die parlamentarische Opposition? Woher kommt heute der außerparlamentarische Protest gegen die Corona-Politik der Regierung und gegen diese selbst? Wie legitim ist er? Schadet er der Demokratie oder hilft er ihr sogar zurück in die demokratische Normalität?

Stunde der Exekutive

Die Covid-19-Krise war die Stunde der Exekutive. Als hätte der umstrittene autoritäre Verfassungstheoretiker Carl Schmitt (1888 – 1985) das Drehbuch geschrieben, nahmen die Regierungen im Bund wie in den Ländern das Heft des Handelns in die Hand. Implizit wurde der Notstand verkündet, Grundrechte außer Kraft gesetzt. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt, schrieb Schmitt im ersten Satz seiner einflussreichen Schrift „Politische Theologie“ (1922).

Dafür wurden die Infektions- und Mortalitätsraten in Deutschland vergleichsweise niedrig gehalten. Dies geschah unter Bezug auf das einfache Gesetz zum Infektionsschutz. Verfassungstheoretisch ist das zwar legal, aber normentheoretisch nur eine papierdünne Legitimation.

Das Parlament stritt nicht um die besten Lösungen. Eine kontroverse Debatte blieb aus. Bundestag wie Länderparlamente fügten sich den Wünschen der Exekutive. Opposition fand nicht statt. Das Parlament, die Kerninstitution der Demokratie, degradierte und entmächtigte sich selbst. Zeitweilig degenerierte sie zu einer nachgeordneten Ratifikationsinstanz exekutiver Beschlüsse.

Linke und Grüne folgten vorbehaltlos der Regierung. Manche von ihnen hätten gerne den Lockdown noch verschärft und verlängert. Nur die kleine FDP meldete Kritik an und erinnerte an den substanziellen Wert der Grundrechte. Prompt wurde sie in den Umfragen von den Wählern bestraft.

Die AfD wusste anfangs wenig Kritisches zu sagen, da sie sich selbst programmatisch einem autoritären Politikstil verschrieben hat. So wenig Opposition war selten. Aber auch die Bürger, also der Demos und Souverän, ordneten sich beängstigend einmütig der Regierungspolitik und damit der zeitweisen Suspendierung der Grundrechte unter. Ein Hauch von Untertanengeist durchwehte die Republik.

Das Schweigen der Opposition

Grünen-Chef Robert Habeck, so etwas wie der heimliche Oppositionsführer, rechtfertigte den Regierungskonformismus seiner Partei in entwaffnender Weise: Die Pandemie sei nicht die Stunde der Opposition, sondern jene der Verantwortung. Aus einer demokratietheoretischen Perspektive ist dies mehr als problematisch. Ist Opposition in der Krise verantwortungslos? Taugt Opposition – also die Kontrolle der Regierung, die Präsentation von Politikalternativen, kritisches Hinterfragen, Diskussion und Deliberation – nur für Normalzeiten?

Das Gegenteil muss der Fall sein. Gerade in der Stunde der Exekutive, wenn Regierungen mehr Macht an sich ziehen als gewöhnlich, muss auch die Stunde der Opposition schlagen. Gerade dann muss die Exekutive streng kontrolliert werden. Das gilt insbesondere für parlamentarisch-demokratische Systeme, wie jenes der Bundesrepublik Deutschland, in denen die Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative einer Gewaltenverschränkung gewichen ist. Gewaltenkontrolle muss deshalb insbesondere durch den Gegensatz von Regierung und Opposition hergestellt werden. Das lernt jeder Student des Staatsrechts und der Politikwissenschaft im ersten Semester.

Während der Corona-Krise gilt: Weder das Parlament noch die Opposition haben hinreichend ihre Funktionen erfüllt. Das führt die Berliner Republik nicht zurück nach Weimar, unsere Demokratie ist zu gut, zu stabil. Problematisch würde es aber dann, wenn in der Corona-Krise ein generelles Skript für weitere Krisen geschrieben wurde. Wenn also bei einer zweiten Infektionswelle oder der Verschärfung der Klimakrise mit dem rationalistischen Argument – „Wir müssen nun rasch, effektiv und geschlossen handeln“ – die Opposition wieder schweigt. Wäre das nicht unverantwortlich für eine Opposition, wenn sie erneut ihre Kontrollfunktion preisgäbe? Ja, das wäre es. Der Pluralismus der Parteiendemokratie würde gefährlich eingeengt. Verantwortlich handelt der, der in der Krise die Regierung kontrolliert.

Eine neue rechte APO?

Es gibt noch einen anderen bemerkenswerten Mechanismus, den wir gegenwärtig im Zusammenhang mit der Corona-Politik beobachten können. Mit der Selbsteinschränkung der parlamentarischen Opposition und des politischen Pluralismus öffnet sich ein breiter Raum für außerparlamentarische Opposition. Das war 1968 in Zeiten einer wirklichen Großen Koalition der Fall, als diese über die Notstandsgesetze beriet. Die außerparlamentarische Opposition (APO) stand damals links.

Heute, in Zeiten der informellen (kleinen) „Großen“ Koalition, der Koalition der Willigen, der Vernunft und Verantwortung, hat sich erneut eine Opposition herausgebildet, die auf die Straße geht. Sie protestiert, hält keine Hygieneregeln ein, ist unvernünftig, unwillig. Ihre politische Zusammensetzung ist bunt bis bizarr. Sie reicht von Althippies, Impfgegnern und anthroposophischen Rudolf-Steiner-Jüngern bis hin zu Pegida, Reichsbürgern und der AfD. Die neue Opposition steht eher rechts und ist im Begriff, von der Rechten gekapert zu werden. Ist sie deshalb undemokratisch und schlecht für die Demokratie?

Die Antwort fällt nicht leicht. Pegida, Reichsbürger und AfD gehören zu einem legitimen Pluralismus der Demokratie, obwohl sie selbst wenig oder überhaupt nicht demokratisch sind und Rassisten (Gauland: Causa Boateng) wie Faschisten (Höcke: Causa Holocaust-Mahnmal) in ihren Reihen dulden. Aber selbst wenn eine Protestbewegung solch dubiose Figuren anzieht, darf ihr das demokratische Recht zu protestieren nicht abgesprochen werden. Natürlich gibt es auch im Demonstrationsrecht Grenzen. Es sind aber nicht jene der Unvernunft. Selbst darauf haben die Mitglieder der offenen Gesellschaft ein Recht.

Prof. Dr. Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Politikwissenschaftler und emeritierter Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) sowie emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgische
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Politikwissenschaftler und emeritierter Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) sowie emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgische © David Ausserhofer

Es gibt jedoch eine tiefe Kluft in unserer Gesellschaft zwischen einer Minderheit auf der einen Seite, die den offiziös verordneten rationalen Argumenten nicht folgen will und dahinter die Interessen und Wertvorstellungen der politischen Eliten auf der anderen Seite vermutet. Dieser Verdacht wird auch durch die öffentlich-rechtlichen Medien genährt. Ihr unübersehbar belehrender Gestus in der Migrations- und Corona-Krise führt nicht zur Öffnung, sondern Schließung der Gesellschaft. Medien sollen informieren, nicht belehren.

Sind also die offene Gesellschaft und der demokratische Rechtsstaat wehrlos? Mitnichten. Die Grenzen eines legitimen Protests werden nämlich dort überschritten, wo die Unvernünftigen die physische Sicherheit ihrer Mitbürger durch Missachtung der Hygieneregeln gefährden. Da endet das Freiheitsrecht der freien Meinungsäußerung. Hohe Geldstrafen für die Verantwortlichen solcher Demonstrationen dürften einen starken Abschreckungswert haben.

Die schnelle Forderung nach einem Verbot der Corona-Demonstrationen ist dagegen weder verhältnismäßig noch politisch klug. Mit illiberalen Maßnahmen rettet man die liberale Demokratie nicht. Der Slogan „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ ist in seinem Kern verfehlt. Er ist illiberal und passt nicht für die liberale Moderne des 21. Jahrhunderts.