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Wie lerne ich mit der Angst umzugehen?

Ein Angstforscher aus Dresden rechnet mit einem Anstieg psychischer Leiden durch Corona und sagt, ab wann es krankhaft wird und wie man sich schützt.

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Bleib bloß weg.
Bleib bloß weg. © 123rf/Sergei Kuznetsov

Normales Gefühl oder seelische Störung? Die Krise schürt bei vielen Menschen tief sitzende Grundängste.

Wer heute bei Google „Angst vor“ eintippt, dem schlägt die automatische Vervollständigung als erstes „Corona“ vor. Warum ist unsere Angst vor dem Virus so groß?

Ich glaube nicht, dass das so ist. Die Angst vor Coronaviren ist bei den meisten Menschen nicht größer als die Angst, an einer Grippe zu erkranken. Was da im Internet sichtbar wird sind Ängste, die durch Corona getriggert werden. Ängste, die sich auf die völlig unübersehbaren Folgen beziehen. Unser Gehirn ist so gepolt, dass es gern Vorhersagen macht, was als Nächstes passieren wird, damit es sich besser darauf einstellen kann. Derzeit wissen wir aber nicht, wie lange welche Einschränkungen gelten werden. Also können wir auch die Folgen für die Wirtschaft oder unser Sozialleben nicht abschätzen. Unser Leben wird plötzlich unplanbar. Diese menschliche Grundangst vor dem Unbekannten macht ungute Gefühle, sie belastet und verstärkt bereits bestehende Ängste.

Gibt es Menschen, die anfälliger sind, Ängste zu entwickeln?

Definitiv. Bis zu einem gewissen Grad ist die Neigung, ängstlich auf eine Situation zu reagieren, auch Ausdruck unserer Persönlichkeit. Ein zweiter wichtiger Faktor ist, wie wir im Leben gelernt haben, Dinge zu bewältigen und Ängste durchzustehen. Je besser das gelungen ist, desto mehr trauen wir uns das auch in der Zukunft zu.

Es ist ein Stück weit genetisch bedingt, Angst zu haben?

Ja. Der größere Teil ist aber durch Lernerfahrungen zu erklären. Ein Beispiel: Natürlich gibt es Eltern, die selbst sehr ängstlich sind und ihren Kindern beibringen, dass man vorsichtig sein muss, Dinge schief gehen können und die Welt gefährlich ist. Es gibt aber auch Eltern, die gelassener sind und ihren Kindern sagen, dass man zwar Angst haben, aber manche Dinge trotzdem tun kann, weil sie einem wichtig sind.

Was passiert im Körper, wenn man Angst bekommt?

Es gibt zwei Stressachsen, die durch Angst aktiviert werden. Variante eins ist eine Situation, in der Sie plötzlich ultrawach sind. Das ist der Effekt von Adrenalin. Variante zwei: Sie bleiben über eine längere Zeit in einer Stresssituation, die Ihnen Angst macht. Dann wird Cortisol ausgeschüttet. Wir empfinden Angst zwar als ein unangenehmes Gefühl, müssen aber auch sagen, dass wir im Zustand der Angst extrem wach, fokussiert und handlungsbereit sind. Andere körperliche Anzeichen von Angst können zum Beispiel Mundtrockenheit, Schwitzen und ein schnellerer Puls sein.

Wo hört normale Angst auf und wo fängt krankhafte Angst an?

Ängste, die man in Bezug auf die Schule, die eigene kleine Firma oder die Ersparnisse hat, sind ausnahmslos nachvollziehbar und begründet. Solche Sorgen haben nichts mit pathologischen Ängsten zu tun – im Gegenteil. Wer sich derzeit keine Sorgen macht, ist wahrscheinlich einfach ignorant. Angst ist ja durchaus wichtig, um in bestimmten Situationen gute Problemlösungen zu finden. Krankhaft wird es, wenn uns Ängste voll einnehmen oder blockieren. Wenn sie dazu führen, dass wir nicht mehr, sondern weniger leisten. Vereinfacht: Werden wir die Ängste nicht mehr los und leiden beispielsweise unter Schlafstörungen, wird es pathologisch.

Wie viele Menschen in Deutschland leiden an pathologischer Angst?

Das hängt davon ab, ob man spezifische Phobien mitzählt oder nicht. Tut man es, haben etwa zehn bis 15 Prozent aller Bundesbürger pathologische Ängste.

Was sind spezifische Phobien?

Zum Beispiel eine so ausgeprägte Angst vorm Zahnarzt, dass man nicht mehr hingeht. Oder Angst vor engen, abgeschlossenen Räumen oder Spinnen. Eine spezifische Phobie liegt dann vor, wenn die Angst so ausgeprägt ist, dass sie einen einschränkt. Wenn man also wegen der Angst nicht mehr in den Urlaub fahren oder eine bestimmte Arbeitsstelle antreten kann.

Welche Angststörungen gibt es noch?

Zum Beispiel Panikstörungen und Agoraphobie. Panikattacken mit körperlichen Symptomen gehen so weit, dass Erkrankte den Notarzt rufen, weil sie intensive Todesangst haben. Agoraphobie ist die Angst vor bestimmten Plätzen, wo viele Menschen sind und man nicht weg kann – etwa in der U-Bahn oder in Einkaufszentren. Im Zusammenhang mit Corona spielt auch die generalisierte Angststörung eine wichtige Rolle. Von ihr sind Menschen betroffen, die dazu neigen, sich übermäßig viel Sorgen zu machen. Je nach Studie leiden zwei bis fünf Prozent der Deutschen daran.

Nehmen deren Probleme jetzt zu?

Ja. Beeinflusst wird das dadurch, dass Leute seit Wochen im Homeoffice oder in Kurzarbeit sind und manchen eine sinnvolle Tagesstruktur verloren geht. Dadurch haben sie nicht nur mehr Anlass, sondern auch mehr Zeit, sich Sorgen zu machen. Das ist Gift für sie. Deswegen lautet der wichtigste Tipp, trotz Corona-Krise die Tagesstruktur aufrechtzuerhalten und über den Tag verteilt kleine Erfolgserlebnisse zu sammeln.

Prof. Dr. Jürgen Hoyer ist Diplom-Psychologe und Inhaber der Professur für Behaviorale Psychotherapie an der TU Dresden.
Prof. Dr. Jürgen Hoyer ist Diplom-Psychologe und Inhaber der Professur für Behaviorale Psychotherapie an der TU Dresden. © Jan Hoyer

Pünktlich aufstehen, frühstücken, sich fürs Büro anziehen…

Genau. Das sind die Dinge, die wir selbst in der Hand haben. Viele unbehandelte Angststörungen münden über die Jahre in eine Depression. Erste Daten aus China deuten darauf hin, dass nach der Pandemie viele psychische Störungen, vor allem Depressionen, häufiger auftreten werden.

Rechnen Sie damit, dass in Deutschland bald Angststörungen zunehmen?

Für die Zeit nach der Pandemie rechne ich schon mit einem vorübergehenden Anstieg der generalisierten Angststörungen und Depressionen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das nicht ganz einfach zu beurteilen, weil es noch keine Daten gibt. Wir wissen das aber von früheren Großschadenslagen wie nach dem Hurrikan „Katrina“ oder den Anschlägen auf das World Trade Center. An der TU Dresden haben wir nach dem Elbe-Hochwasser 2002 Befragungen gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass ein wesentlicher Schutzfaktor existiert: Es muss der Glaube erhalten bleiben, die Welt insgesamt sei in Ordnung.

Gibt es in Sachsen genug Behandlungskapazitäten?

In den Städten ja, auf dem Land gibt es teilweise Versorgungsengpässe. Grundsätzlich gilt aber, dass die Psychotherapeuten, der Sozialpsychiatrische Dienst und andere Helfer alle im Dienst sind. Psychotherapeuten können inzwischen auch Videotelefonie-Sitzungen oder Telefongespräche bei den Krankenkassen abrechnen.

War es zuletzt nicht aber schon schwer, einen Termin zu bekommen?

Für kurzfristige Hilfe sind die telefonischen Hotlines besser geeignet. Wenn es wirklich um einen Psychotherapieplatz geht, muss man eine Wartezeit einplanen. Es geht eben um eine gründliche Behandlung. Notfalls kann man sich auch an die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung wenden. Grundsätzlich ist die Versorgung hierzulande aber sehr gut.

Wie lernt man, Angst auszuhalten, sie ein Stück weit zu akzeptieren?

Das muss man den meisten Leuten gar nicht beibringen. Die allermeisten haben ja schon Krisen erlebt und durchgestanden. Meine Empfehlung lautet: Erinnern Sie sich daran, wie das geglückt ist. Welche Kräfte Sie dabei entwickelt haben. Holen Sie sich Unterstützung, suchen Sie soziale Gemeinschaft und sprechen Sie darüber, was Sie bedrückt. All das wirkt dem Sich-Hineinsteigern in die Angst entgegen. Grundsätzlich schützt eine vorsichtig optimistische Einstellung am besten vor psychischen Störungen.

Was kann man noch tun, um sich zu wappnen?

Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie selber in den Griff kriegen können. Bleiben Sie aktiv. Haben Sie bisher Sport getrieben, tun Sie es weiterhin. Das hat nicht nur einen physischen, sondern auch einen seelischen Trainingseffekt. Kaufen Sie für ältere Mitmenschen ein, die diese Hilfe jetzt brauchen. Erledigen Sie etwas, wofür Sie bisher nie Zeit hatten. All das bringt Sie in der Krise weiter.

Was tun Forscher derzeit, um neue Erkenntnisse über die Angst zu gewinnen?

Viele Wissenschaftler betreiben momentan Onlinestudien. Allein in Deutschland gibt es zwei große Netzwerkstudien, die untersuchen, wie Ängste und Bewältigung sich über den Verlauf der Krise entwickeln. Eine wichtige Frage ist dabei auch, wie Widerstandsfaktoren – die sogenannte Resilienz – Menschen vor dem Abgleiten in Angstgefühle schützt. An der TU Dresden haben wir am 10. April eine Onlinestudie begonnen, bei der wir zum ersten Mal feststellen wollen, welche Aktivitäten die Menschen tatsächlich bevorzugen und wie das Maß an Aktivitäten mit Ängsten und Depressionen zusammenhängt. An den Befragungen haben bereits mehrere Tausend Menschen teilgenommen. Die Teilnahme ist noch bis zum 26. Mai möglich.

Rechnen Sie eigentlich damit, dass durch die Krise auch Zwangsstörungen zunehmen werden? Es gibt ja Menschen, die sich Dutzende Male am Tag die Hände waschen.

In der Tat gibt es Menschen, die an einer solchen Störung leiden. Hintergrund kann eine extreme Angst vor Ansteckung sein. Das ist der Motor für zwanghaftes Händewaschen, Distanzhalten und Nichtberühren von Türklinken. Ich vermute, dass viele Menschen mit einer solchen Diagnose gerade einen Horrortrip erleben. Andererseits ist es ja gerechtfertigt, sich oft die Hände zu waschen. Das könnte für manch einen auch entlastend wirken, weil das eigene Verhalten nicht mehr so unnormal und übertrieben erlebt wird.

Gibt es noch andere Krankheitsbilder, bei denen Sie befürchten, dass die Corona-Krise individuelle Schicksale verschlimmert?

Ja, einige. Bei vielen Patienten mit Traumastörungen werden sich die Probleme wieder verschlimmern. Des Weiteren sehen wir bei Alkoholabhängigen eine erheblich gestiegene Rückfallgefahr. Ein drittes Riesenproblem ist das Thema häusliche Gewalt – mit schlimmen Folgen vor allem für Kinder und Frauen.

Das Gespräch führte Andreas Rentsch.

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