Das E-Rezept rückt näher

Haben Sie eine Zuzahlungsbefreiung? Sven Lobeda und seine Kollegen in der Apotheke am Dresdner Postplatz könnten die Frage singen – so oft müssen sie sie tagtäglich stellen. Häufig ernten sie dann nur ein Schulterzucken. Im Zweifel müssen die Kunden dann noch mal bei ihrer Kasse vorstellig werden – oder notgedrungen die gesetzliche Zuzahlung leisten. „Das schafft Frust auf beiden Seiten“, sagt Lobeda.
Immerhin: Bei einem Teil der Patienten können sich die Mitarbeiter den Ärger inzwischen sparen. Sie scannen das Rezept, gleichen die Daten online mit der jeweiligen Krankenkasse ab und wissen Bescheid – alles binnen weniger Sekunden. Möglich macht das eine digitale Plattform der Dresdner Firma Scanacs. „Etwa 530 Apotheken im gesamten Bundesgebiet nutzen bereits unsere Technik“, sagt Geschäftsführer Frank Böhme. Auf der anderen Seite hat er mehrere große Kassen unter Vertrag, darunter die AOK Plus, die TK und die Barmer.
Den Nutzen haben dabei vor allem die Kunden. Doch das ist nur der Anfang auf dem Weg zum elektronischen Rezept. Ab 2022 soll das E-Rezept nach dem Willen von Gesundheitsminister Spahn bundesweit für verschreibungspflichtige Arzneimittel eingeführt werden. Die Zettelwirtschaft wäre damit endgültig erledigt. Und nicht nur die.
750 Millionen Rezepte
Die Entwickler von Scanacs haben ihrem Programm bereits den nächsten Baustein hinzugefügt – vor allem zum Vorteil der Apotheken. Denn was die meisten Patienten nicht wissen: Sobald sie ihr Rezept eingelöst haben, muss die Apotheke jede einzelne Verordnung gründlich prüfen. „Das ist aufwendig und oft mit ungewissem Ausgang verbunden“, erklärt Lobeda. In seiner Apotheke sind drei Mitarbeiter nur mit dieser Aufgabe beschäftigt.
Dabei wird zunächst geklärt, ob der Kunde tatsächlich versichert ist, die Zuzahlung rechtmäßig erfolgte und die 28-Tage-Frist für die Einlösung eingehalten wurde. Außerdem wird geprüft, ob die Kasse für das ausgegebene Medikament einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Von all diesen Fragen hängt ab, wie viel Geld die Apotheke der Krankenkasse in Rechnung stellen darf. Danach prüfen die Kassen ihrerseits, ob alles korrekt ist. „Letztlich geht es um die Frage, ob der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen beachtet wurde“, sagt Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen.
Rund 750 Millionen Rezepte werden jedes Jahr in Deutschland ausgestellt. Etwa jedes zehnte wird von den Kassen beanstandet. „Häufig, weil ein Kreuz an der falschen Stelle gemacht wurde oder die Angaben schlecht lesbar sind“, sagt Filialleiter Lobeda. Mal überdeckt der Arztstempel eine wichtige Information, mal ist die Dosierung nicht klar zu erkennen. Dann könne es beispielsweise passieren, dass eine nach Rezeptur hergestellte Lösung für 44.000 Euro nicht bezahlt wird, nur weil ein Bestandteil nicht richtig entziffert werden konnte. „Das kann einer Apotheke schnell Liquiditätsprobleme bereiten.“
Nachteilig kann es auch sein, wenn der Arzt eine veraltete Verordnungssoftware benutzt. Wenn sich der Fehler Monat für Monat unbemerkt wiederholt, kann es richtig teuer werden. Denn die Kassen haben bis zu einem Jahr lang Zeit für die Prüfung – und weitere drei Monate nach einem Einspruch. Die Hälfte aller beanstandeten Verordnungen würden übrigens am Ende doch erstattet, sagt Lobeda.
Frank Böhme kennt das Dilemma aus eigener Erfahrung. Er hat lange Zeit bei einer Krankenkasse gearbeitet, bevor er vor drei Jahren Scanacs gründete. Jetzt bringt er mit seinem Team eine Lösung auf den Markt, die den Apotheken viel Zeit, Geld und Ärger ersparen soll: „Mit unserer Applikation können Apotheken sehr viel schneller und genauer die ärztlichen Verordnungen auf ihre Erstattungsfähigkeit gegenüber dem Kostenträger vor bzw. während der Abgabe des Arzneimittels prüfen.“ Dafür bekam die Firma in diesem Jahr den Publikumspreis beim Wettbewerb „Sachsens Unternehmer des Jahres“.
Die Software erkennt sofort, ob ein Arzneimittel erstattungsfähig ist, und zeigt dem Apotheker gegebenenfalls Abgabeempfehlungen an. „Eine Ablehnung der Kostenübernahme durch die Kasse ist damit ausgeschlossen“, betont Böhme. Im Zweifel könnten die Apotheker auch sofort ihre Fragen an die Kassen stellen. Für den Service zahlen die Apotheken eine Gebühr an Scanacs und an die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.
Mehr Zeit für die Beratung
Sven Lobeda musste nicht lange überlegen, ob er das neue Angebot nutzt, auch wenn es zunächst nur für Versicherte von drei gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung steht: Barmer, Siemens BKK, Audi BKK. Die Barmer unterstützt die digitale Rezeptprüfung im Rahmen eines Pilotprojekts, um die Technik zunächst in Sachsen zu erproben. „Das Verfahren bedeutet weniger Arbeitsaufwand für die Apotheken“, sagt Barmer-Chef Magerl, „und weniger Bürokratie bedeutet mehr Zeit für das Kerngeschäft, die Beratung von Patienten.“ Angesichts der digitalen Möglichkeiten sei es einfach nicht nachvollziehbar, wie altbacken viele Prozesse noch abliefen.
Gegenwärtig testen verschiedene Partner das elektronische Rezept in diversen Modellprojekten. Die meisten Modelle konkurrieren, manche ergänzen sich auch. Das Gesundheitsministerium in Berlin legt Wert darauf, dass für die Übermittlung des E-Rezepts die sichere Telematikinfrastruktur des Gesundheitswesens (Gematik) genutzt wird, wie es bereits bei der elektronischen Gesundheitskarte der Fall ist.
Die TK startete vor anderthalb Jahren in einem Hamburger Stadtteil mit einem Programm, bei dem die Versicherten von der Arztpraxis einen QR-Code auf ihr Smartphone bekommen. Diesen können sie dann in der Apotheke vorzeigen oder an die Apotheke schicken. Nach dem Scannen wird das Medikament ausgegeben bzw. geliefert. Vor wenigen Tagen wurde das Modell auf ganz Deutschland ausgeweitet, auch die Barmer, die HEK und die BIG direkt gesund haben sich angeschlossen.
Weil die Software mit einer weitverbreiteten Praxissoftware kompatibel ist, könne nach Angaben der TK mehr als jeder dritte gesetzlich Versicherte von den Vorteilen profitieren. Es wäre damit bundesweit das größte E-Rezept-Projekt. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass neben Ärzten und Apotheken auch die Versicherten ihre Bereitschaft erklären.
Weit fortgeschritten ist auch ein Modellprojekt in Baden-Württemberg. Der „Geschützte E-Rezept-Dienst der Apotheker“ – kurz Gerda – richtet sich zunächst an Ärzte, die eine Videosprechstunde anbieten. Hält der Arzt dabei eine Verordnung für erforderlich, kann er sie als E-Rezept auf einem besonders gesicherten Speicher ablegen. Über eine App sendet der Patient das Rezept dann an eine Apotheke seiner Wahl. Die Apotheke kann dem Patienten via Chat mitteilen, wann die Medikamente verfügbar sind.
Welche Lösung sich am Ende durchsetzt, scheint noch völlig offen. Auch die ehrgeizigen Fristen von Minister Spahn stoßen nicht bei allen Akteuren auf Unterstützung. Dass aber etwas passieren muss, ist zumindest Konsens. Fabian Magerl: „Die Digitalisierung bietet Möglichkeiten, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schienen.“