Von Jörg Stock
Ralf Hubrich ist nicht der Typ, der stets vom Allerschlimmsten ausgeht. So regen sich arge Zweifel in ihm, als eines Tages – es muss Anfang der 1990er-Jahre gewesen sein – ein Bürger anruft und aufgeregt meldet, er sei in einem alten Stollen auf menschliche Skelette gestoßen. „Er war überzeugt davon, ein Massengrab gefunden zu haben“, sagt Hubrich.

Glaubwürdig oder nicht – man muss sich das anschauen. Mit einem Kollegen fährt der Kommissar los, Richtung Hinterhermsdorf, das Massengrab zu inspizieren. Am Straßenrand finden sie die beschriebene Tür und dahinter einen ausgemauerten Gang. Darin liegen Knochen, Rippen, Wirbel. Ein Schädel grinst die Ermittler an, mit kräftigem Gebiss. Doch die Kiefer sind seltsam langgezogen. Und dann dieser graue Stoff, der den Knochenhaufen bedeckt. Ist das einmal Wolle gewesen? Ralf Hubrich grient in sich hinein, während er die Szene schildert. „Entweder hatten wir den Homo Sächsische Schweiz entdeckt, oder es waren Schafe.“ Man einigte sich auf Letzteres.
Der Anrufer hatte offenbar eine Kadavergrube entdeckt. Diese Gruben stammen aus der Zeit, als jeder Bauer seine eigene kleine Viehwirtschaft führte. Hinein warf man das auf den Höfen verendete Getier. Und da blieb es, bis ein Verwertungsbetrieb es abholte. Längst sind diese Gruben außer Betrieb. Totes Nutzvieh muss heute direkt in die Tierkörperbeseitigungsanstalt.
Chronologische Rolle rückwärts, in die Mitte der 1980er-Jahre. Ralf Hubrich arbeitet bei der Kripo in Dipps. Es ist Sonnabend, und er schiebt Dienst. Es liegt nichts Besonderes an. Im Nachbarkreis Pirna aber rotieren die Kollegen. Sie fahnden nach einer jungen Frau. Die Suchmeldung läuft sogar im Radio. Da stellt man einen Anruf zu Hubrich durch. Es ist ein Reichstädter, der aus der Telefonzelle mitteilt, die Gesuchte sei bei ihm. Er wolle keinen Ärger, man könne die Frau in seiner Wohnung abholen.
Hubrich steigt in den Dienst-Trabi und tuckert nach Reichstädt hinüber. Dort findet er die Frau und lädt sie ein. Auf der Rückfahrt erfährt er, dass sie und der Anrufer sich im Bus getroffen hatten. Man war sich sympathisch, stieg gemeinsam aus und verbrachte „ein paar schöne Stunden“, so formuliert es Hubrich hintersinnig. Zurück in Dipps, ruft er gleich die Pirnaer Kollegen an. „Ihr sucht doch diese junge Dame – die ist bei mir.“ Antwort: „Unmöglich. Wir haben einen Verdächtigen, der hat sie umgebracht.“ Hubrich: „Nein, sie ist bei bester Gesundheit.“ Die Skepsis am anderen Ende bleibt. Was war passiert?
Die Pirnaer hatten einen jungen Mann ermittelt. Mit dem war die Vermisste von einer Feier verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Dazu befragt, gestand er: Man sei gemeinsam ins Müglitztal gefahren, dort habe er sie an einem felsigen Hang bei Köttewitz im Streit erschlagen. Die Polizisten fanden am besagten Ort eine blutige Eisenstange. Alles passte, nur die Leiche fehlte. Der Mann wurde dem Haftrichter vorgeführt, wo er wieder alles zugab. Fünf Tage saß er dann im Gefängnis auf der Dresdner Schießgasse, bevor klar wurde, dass der so perfekt aufgeklärte Mord nie passiert war.
Wieso der Unschuldige diese Tat begangen haben wollte, hat Ralf Hubrich nicht erfahren. Manche gestehen, weil sie die Nase voll haben vom Verhör, sagt er. Andere wiederum, weil sie Beachtung wollen. Das trifft auch auf sogenannte Dauerzeugen zu, die, worum es auch geht, etwas gesehen haben. Doch stellt sich heraus, dass sie nur das wissen, was die Zeitung schreibt.
Wir bleiben in den 1980ern. Der Erzgebirgsort Hartmannsdorf nahe der Talsperre Lehnmühle ist damals eine praktisch kriminalitätsfreie Gegend. Da meldet der Vorsitzende der örtlichen LPG, dass seit einiger Zeit Dinge aus dem Materiallager verschwinden: Werkzeuge, Melkeimer, Gummistiefel, Tragekörbe, Kälberstricke. Kleinigkeiten eigentlich. Doch in der DDR gab es keine Kleinigkeiten, sagt Ralf Hubrich. Diebstahl sozialistischen Eigentums wurde von den Behörden sehr ernst genommen.
Der Kommissar als Fährtenleser
Die Kriminalisten besehen sich den Tatort. Es ist eine Scheune, auf deren oberer Etage in einem Séparée das Lager eingebaut ist. Einbruchsspuren gibt es nicht. Der Dieb hat wahrscheinlich einen Schlüssel. Er kommt stets in tiefer Nacht, so gegen zwei. Das weiß man, weil ein findiger Betriebshandwerker einen Kontakt, gekoppelt mit einer elektrischen Uhr, an die Tür gebaut hat. Das bringt die Ermittler auf eine Idee: Warum nicht eine Fotofalle installieren? Man bringt eine Kamera mit Blitzlicht in Stellung. Problem dabei: Der Blitz wird die Falle unweigerlich verraten. Der Ertappte muss also in die Flucht geschlagen werden, bevor er begreift, was passiert ist. Deshalb wird auch eine lautstarke Sirene angeschlossen. Die ganze Schaltung funktioniert mit Zeitverzögerung. Der Täter soll erst in Ruhe vor die Linse kommen.,
Nun heißt es warten. Eines Morgens ruft die LPG an: Er war wieder da! Die Kripo-Leute eilen zur Scheune. Alle Türen stehen offen, der Apparat hat ausgelöst. Der Plan scheint geglückt. Erwartungsvoll wird die Aufnahme entwickelt. Und darauf sieht man – nichts. Nur einen Umriss hinter der Glasscheibe der Lagertür. Identifizierung unmöglich. Der Dieb muss die Tür so langsam geöffnet haben, dass die Zeitverzögerung nicht ausreichte. Doch Blitz und Sirene haben ihm wohl den Schock seines Lebens verpasst, mutmaßt Ralf Hubrich. „Er ist nie wiedergekommen.“
Weihnachtszeit in Bärenstein. Der Besitzer eines Wochenendgrundstücks tobt. Zwei Blaufichten wurden bei ihm abgesägt und entführt. So geht das schon seit Jahren. Ansehnliche Weihnachtsbäume sind eben rar im Sozialismus. Als Ralf Hubrich den Tatort untersucht, entdeckt er Schuhspuren im Schnee. Zwar will der Geschädigte einen Fährtenhund. Aber Hubrich geht seiner eigenen Nase nach. Er folgt dem Schuhprofil, und obwohl nicht überall Schnee liegt, gelingt es ihm, auf der Fährte zu bleiben. Nahe dem Marktplatz führen die Tapsen in ein Grundstück. Dort liegen in der Garage zwei Blaufichten. Die Dame des Hauses reagiert vergnatzt auf Nachfragen. Sie schiebt die Sache ihrem Mann zu. Den besucht Hubrich schnurstracks in Dipps, wo er Angestellter einer Blockpartei ist. Der Verdächtige gesteht. Dass er schon früher an gleicher Stelle sägte, kann man ihm nicht nachweisen. Die beiden Bäume werden konfisziert. Weil der rechtmäßige Besitzer sie nicht gebrauchen kann, werden sie auf Weisung der Staatsanwaltschaft an soziale Einrichtungen abgegeben.