Von Peter Anderson
Der Schulleiter klingt wie ein Erstklässler. „Wäre eventuell noch eine Packung Kekse offen“, schmeichelt Werner Esser. Seine Sekretärin hat den Wunsch des großen Schulbuben vorausgeahnt. In der rechten Hand, die noch von der Tür verdeckt ist, liegen auf einem kleinen Tablett die ersehnten Süßigkeiten. Der Leiter des Landesgymnasiums St. Afra oben auf der Freiheit des Meißner Burgbergs muss über seine eigene Naivität lachen. „Ich habe noch nicht gegessen“, sagt er. Fast schon entschuldigend klingt das. Es ist nachmittags gegen halb Drei.
Lehrer war nie ein Traumberuf
Das große Büro im Hochparterre der alten Fürstenschule hält trotz der spätsommerlichen Wärme die herbstliche Kühle des Morgens fest. Es wirkt aufgeräumt. Rechner, Telefon und elektronischer Kalender stehen bereit, jeden Anflug von Unordnung in Ordnung zu verwandeln. Der Schulleiter trinkt das Wasser, das er predigt. Mit den neuen Medien scheint er sich auszukennen. Drei großflächige Bilder moderner Künstler bringen eine persönliche Note in den Raum.
Die Unterhaltung kommt unwillkürlich immer wieder auf St. Afra zurück. Das liegt nicht an dem Büro, in dem die Unterhaltung geführt wird, es liegt an Esser selbst. „Als Literaturwissenschaftler an der Uni in Aachen, habe ich den Lehrerberuf total abgelehnt“, sagt der Schulleiter. Er habe sich nicht vorstellen können, ein Leben zu führen, dem es an Intensität fehlt. Irgendwann Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre sei er dann durch eine Stellenanzeige in der „Zeit“ auf die berühmte Internatsschule Salem am Bodensee aufmerksam geworden. Ein Besuch vor Ort habe ihn überzeugt, dass ein Lehrer in Salem wirklich intensiv lebt. Am Bodensee begann seine Wandlung vom Literaturwissenschaftler zum Pädagogen.
Privatmann umsonst gesucht
Ein viertel Jahrhundert liegt das jetzt zurück, Pädagoge mit Leib und Seele ist Esser mehr denn je. Das macht den Versuch überflüssig, einen Privatmann hinter der offiziellen Persönlichkeit entdecken zu wollen. Beide sind miteinander verschmolzen. „Ich brauche nach meiner Arbeit keine Abwechslung im herkömmlichen Sinne“, sagt Esser. Seine Arbeit sei ihm Abwechslung genug. Freizeit bedeute für ihn hauptsächlich Ruhe: Kochen am Abend mit der Frau oder Segeln in die Weite des Meeres hinaus, wo man alles hinter sich lassen kann, wo kein Alltagszwang hinreicht.
Was bleibt, ist der Pädagoge Esser. Viel ist über ihn und sein Mit-Kind, das Meißner Landesgymnasium, geschrieben worden. Ein lautes Rauschen im deutschen Zeitungsblätterwald begleitete den Start der Internatsschule im Sommer 2001. In der Frankfurter Allgemeinen hieß es: „Der Staat entdeckt seine jungen Eliten“. Die Financial Times Deutschland beschwor unter der Überschrift: „Letzte Ausfahrt Kaderschmiede“ den Aufbruch zu neuen Bildungsufern. Mit „Von Talent und Talenta“ überschrieb die Süddeutsche ihren Pflichtbeitrag.
Das Interesse der Medien ist erlahmt. Im Sommer macht der erste durchgängige Jahrgang sein Abitur an der Schule. Von der siebenten Klasse an haben die Schüler auf dem Burgberg gelernt. Die Jahrgänge zuvor waren Quereinsteiger.
Von Routine in St. Afra zu sprechen, wäre trotzdem falsch. „Das ist mit das Schlimmste, was uns passieren kann“, poltert es aus Esser heraus. Der Schulleiter gewinnt an Temperament, rutscht auf seinem Stuhl nach vorn, beginnt zu gestikulieren. „Genau diese Routine hat mir selbst meine Schulzeit so verleidet“, sagt er. Vierschrötige Pauker, die Jahr für Jahr die gleiche Nummer abziehen, egal wer vor ihnen sitzt.
Esser hat ein klares Feindbild und ein klares Leitbild: Das, was sich in St. Afra bewährt hat, soll auch in den „normalen“ Schulen umgesetzt werden. Die Entdeckungen der Forschungsstelle müssen irgendwann der Serienproduktion zugute kommen. Ein Punkt liegt ihm besonders am Herzen: „Der Unterricht muss viel mehr auf die Stärken und Schwächen jedes Einzelnen zugeschnitten werden“, sagt er. Jeder Schüler ist anders. Nichts sei schlimmer als die weit verbreitete Deckelung, das Zwingen unter eine Norm. Esser setzt dagegen eine individualisierte Bildung.
Rufer in der Wüste wird gehört
Mit seinen Forderungen ist der Chef des sächsischen Landesgymnasiums längst kein Rufer in der Wüste mehr. Der Prophet gilt mittlerweile etwas im eigenen Land. „Im Herbst hat mich die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag nach Berlin zu einer Klausurtagung eingeladen“, sagt Esser. Das Einzelbeispiel taugt zur Verallgemeinerung. Solche Vortragsreisen nehmen einen Großteil von Essers Arbeitszeit in Anspruch. „St. Afra hat sich einen Namen gemacht“, sagt Esser. Noch nicht einmal sechs Jahre hat es dazu gebraucht.
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