Das ist wahre Spicker-Kunst

Mit diesem Geständnis hat Gerald Gerlach gar kein Problem: Ja, er hat früher selbst Spickzettel geschrieben. Gut sortiert und strukturiert waren die. Damit er auch auf den ersten Blick alles hätte finden können, was er während einer Prüfung hätte finden wollen. Nur war die Mühe meist vollkommen umsonst. „Letztlich brauchte ich sie gar nicht mehr, weil ich durch das Schreiben des Spickers den Lernstoff schon verstanden hatte.“ Auf diesen Effekt hofft er heute auch bei seinen Studenten. Der Professor und Direktor des Instituts für Festkörperelektronik der TU Dresden erlaubt ihnen schon seit Jahren das Spicken. Die besten Zettelchen kommen derzeit zu einer ganz besonderen Ehre.
Unser Gehirn ist das Problem. Es braucht viele Wiederholungen, damit es sich etwas wirklich merken kann. Dadurch werden die Informationen auf ihrem Weg vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu Wissen. Für Schüler und Studenten heißt das eigentlich: Für eine gute Prüfungsvorbereitung braucht es ausreichend Zeit und Lust am Lernen. Die Realität sieht meist anders aus.
Gerlachs Vater war Bauingenieur und hatte einen ganz eigenen Tipp für seinen Sohn. „Er sagte immer, ich solle einen Spickzettel schreiben. Das wäre die beste Vorbereitung.“ Das intensive Auseinandersetzen mit der Thematik, das Durchdenken eines Aufbaus für den geheimen Helfer und das Schreiben selbst führen zu Wiederholungen, die das Verstehen und das Speichern im Langzeitgedächtnis fördern. „Mit dem Spicker in der Hinterhand fühlte ich mich damals trotzdem sicherer“, sagt der Wissenschaftler. Wo das beste Versteck dafür gewesen sei? „Das weiß ich leider nicht mehr.“ Aber zumindest könne er sich nicht daran erinnern, erwischt worden zu sein.
Nach dem Abitur 1976 studierte Gerlach Elektrotechnik/Informationstechnik an der TU Dresden. Danach arbeitete er in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen des Messgerätewerks Zwönitz und später in den Geräte- und Regler-Werken Teltow. Nebenbei promovierte und habilitierte er. Im Jahr 1993 wurde er zum Professor an die TU Dresden berufen, seit 1996 ist er außerdem Institutsleiter. „Ich merkte damals schnell, dass viele Studenten Dinge für Prüfungen einfach auswendig lernen“, erinnert er sich. Doch das bringe gar nichts. „Sie müssen den Stoff ja verstehen, wenn sie in anwenden wollen.“ Ihm fielen seine Spickzettel wieder ein und er hatte eine Idee.
Warum die Studenten nicht einfach offiziell spicken lassen? Als er vor fast 20 Jahren seinen Studenten dieses Angebot machte, waren sie überrascht – und schrieben fleißig ihre Prüfungshelfer. Ein A4-Zettel, beschriftet auf Vorder- und Rückseite ist seitdem in seinen Klausuren erlaubt. Während der Prüfungsaufsicht fiel Gerald Gerlach kurze Zeit später auf, wie unterschiedlich die Spicker gestaltet sind. Welche Ästhetik manche von ihnen ausstrahlen, wie chaotisch andere wiederum wirken oder wie filigran einige Studenten Zeichnungen hinzufügen. Er denkt sich noch etwas aus: einen Wettbewerb um den schönsten Spickzettel. Seitdem können die Studenten neben ihrer Klausur auch noch den Spickzettel abgeben. Für die besten winkt das Geld für einen Kasten Bier.
Wer den Preis bekommt, darüber wollte Gerald Gerlach nicht entscheiden. „Ich sage immer, Bestechungsversuche haben bei mir also gar keinen Zweck“, erklärt er und lacht. Seine Sekretärin Heike Collasch und ein oder zwei wissenschaftliche Mitarbeiter gehören der Jury an. Viel haben die in den vergangenen Jahren schon gesehen. Schriftgrößen, die sich am ehesten hätten mit einer Lupe entziffern lassen oder kunterbunte Zeichnungen. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Studenten schreiben ihre Spickzettel eher für den Wettbewerb als für die Prüfung.“ Ein Student gab sogar einen Zettel ab, der auf der Rückseite Schönes für die Jury bereithielt. Das Foto eines gestählten Männeroberkörpers für die Sekretärin und eines Damen-Dekolletés für die männlichen Begutachter.
Irgendwann entstand in Gerald Gerlach der Wunsch, diese Spicker-Kunst nicht nur auf einem Stapel zusammen und für sich zu behalten. „Spickzettel sind Gebrauchsgrafik“, sagt er. Die Kunstwissenschaft hätte sich bisher damit aber noch nicht beschäftigt. In Zusammenarbeit mit der Kustodie der TU Dresden entwickelte er die Idee für eine Ausstellung und einen Begleitkatalog.
Der Traum, die schönsten Spickzettel aus dem Verborgenen zu holen, ist nun Wirklichkeit geworden. Mitte September wurde die Ausstellung im Penck-Hotel in Dresden eröffnet, ab Montag, dem 23. September, ist sie nun im Bürogebäude der TU Dresden im Zelleschen Weg 17 zu sehen.
Ob sich die Noten durch die Spickzettel verbessert haben? „Das weiß ich gar nicht“, erklärt der Professor. Seinen Kollegen und Kolleginnen würde er die offizielle Spickzettel-Methode für Klausuren auf jeden Fall empfehlen. „Zumindest in Fächern, wo das Ganze Sinn ergibt.“ Einen positiven Effekt hätte die Sache aber auf alle Fälle schon gehabt. Die Zahl der Mitarbeiter, die während der Prüfung für die Aufsicht zuständig sind, konnte drastisch reduziert werden. „Wir müssen ja keine Spickzettelnutzer mehr jagen.“
Ausstellung „Spicken erlaubt!“: ab 23. September in der Slub, Bereichsbibliothek DrePunct, Bürogebäude Zellescher Weg 17