Das Konservative als Grenze gegen Rechts

Was verbindet Winfried Kretschmann und Alexander Gauland? Beide haben Bücher über das Konservative geschrieben, die allerdings unterschiedlicher nicht sein könnten. Gaulands bald zwanzig Jahre alte „Anleitung zum Konservativsein“ beruft sich auf gewesene Selbstverständlichkeiten der politisch-kulturellen Polarisierung aus der alten Bonner Republik. Kretschmann hingegen hofft, wiederum neue, seither gewachsene Selbstverständlichkeiten in Bezug auf einen breiten pluralistischen, humanitären Konsens bewahren zu können. Sein „Worauf wir uns verlassen wollen“ ist so eindeutig in die Zukunft gerichtet, wie Gaulands Blick in die Vergangenheit, was freilich weit mehr ist als eine bloße Variation der Perspektive.
Das wird bei der Betrachtung des politischen Kontextes deutlich: Der Historismus des einstigen Freizeitgelehrten Gauland ist im Jahr 2020 nicht mehr zu trennen von seiner politischen Instrumentalisierung durch den AfD-Politiker Gauland. Die Fixierung auf vergangene Normalität dient dabei einem doppelten Zweck. Nämlich erstens jegliche Veränderung als eine Form der Dekadenz zu deuten und damit die Gegenwart im großen Stil zu diskreditieren. Zweitens geht damit einher, gegen die Neo-Normalität Kretschmanns einen ebenso raffinierten wie fürchterlichen Geist der Revanche zu mobilisieren. Dazu gehört nicht nur Rache für den Verrat konservativer Werte. Sondern insbesondere auch für all jenes, das die Gesellschaft den Linken vormals und vermeintlich hat durchgehen lassen.
Aber auch Kretschmann ist nicht frei von Kontext, nicht zuletzt wegen der Motive, aus denen heraus sein Buch entstanden ist. Angeblich hat sich dieser enorm über Alexander Dobrindts Aufruf zu einer „konservativen Revolution“ echauffiert, der in der Tat eine historisch schlecht reflektierte sowie aus einem falschen parteipolitischen Kalkül vollzogene Attacke auf progressive Milieus war. Dobrindt scheint einerseits nicht klar gewesen zu sein, wie sehr der Begriff seit der Weimarer Republik vorbelastet ist. Andererseits galt damals in der CSU-Führung die für die spätere Landtagswahl verhängnisvolle Parole, man müsse die AfD in den rechtsextremen Rand zurückverdrängen, indem man das gemäßigte populistische Vokabular („Asyltourismus“, „Antiabschiebeindustrie“ etc.) übernehme.
Heilsame Tracht Prügel
Unter dem Motto „#ausgehetzt“ hatten der CSU dann aber insbesondere die Grünen derart eingeschenkt, dass es der Landesleitung wohl noch lange eine Lehre sein wird. Seither ist die Söder-CSU „jünger, weiblicher, ökologischer“ und erfolgreicher. Also war die Tracht Prügel wohl heilsam. Aber darüber sollte nicht die bereits damals nur zaghaft gestellte Frage in Vergessenheit geraten, wo jemand steht, der die CSU rundheraus mit der NSDAP gleichsetzt. Zweifellos: Unter den Demonstranten in München dominierte eine positiv artikulierte Botschaft für eine bunte, weltoffene Gesellschaft ohne nationale Schranken. Wie realistisch diese sein mag, sei dahingestellt. Aber der schrille Unterton („FickDichCSU“, „CSUHurensöhne“, „CSU Faschistenpack“) war leider unüberhörbar, und es fragt sich, was wohl Winfried Kretschmann dazu sagen würde.
Das bringt uns zu einem Problem der politischen Auseinandersetzung, das sich nicht in distinguierter Prinzipienreflexion lösen lässt, weil es auf der Straße und den sozialen Medien stattfindet. Mit anderen Worten: Hier hat die Frage, ob jemand oder etwas links, liberal, konservativ oder rechts ist, eine ganz andere Bedeutung und Relevanz als in der leeren Programmsprache realer Politik, wo das Schema längst obsolet geworden ist – oder eben in der enthobenen intellektuellen Betrachtung. Mit einem Tweet oder Post kann sich ein Privatmensch derart schnell um Kopf und Kragen bringen, womit verglichen jede parlamentarische oder geisteswissenschaftliche Debatte ein harmloses Tête-à-Tête darstellt.
Das zeigt aktuell der Blick auf das Thüringer Desaster in eindrucksvoller Weise. Dort tritt das eigentliche Ergebnis in den Schatten der Interpretation seiner Signalwirkung. Das heißt: In den Kommentarspalten und also in der Hauptsache geht es nicht um die realpolitischen Folgen der Abwahl von Ministerpräsident Ramelow im Speziellen. Auch nicht um die machtpolitischen Konsequenzen der Kooperation zwischen AfD, FDP und CDU für die Parteien im Allgemeinen. Genau genommen geht es noch nicht einmal um die Frage, ob die Demokratie durch dieses Manöver Schaden genommen hat – und wenn ja, welchen. Sondern um die Frage, wer der Außenstehenden bei der persönlichen Bewertung auf welcher Seite des Grabens steht.
Entscheidende Megafrage: Was ist rechts?
Dabei reicht es nicht etwa, es für einen verhängnisvollen Fehler zu halten, dass Thomas Kemmerich die Wahl zum Ministerpräsidenten angenommen und dazu auch noch dem gratulierenden Björn Höcke die Hand geschüttelt hat. Nuancen, Zweifel oder Skrupel sind hierbei ein Luxus für den innenpolitischen Kommentar einer führenden Tageszeitung, oder Statements von Parteispitzen. Aber nichts für das Fußvolk, für das es nur Schwarz oder Weiß, Licht oder Schatten, Krieg oder Frieden gibt. Und so spricht der linke Volksmund: „Jetzt ist die Zeit der Entscheidung! Entweder Kemmerling ist ein Nazi, oder man ist selbst einer. Punkt.“
Was also rechts ist oder nicht, mag in der realen, analogen Welt ein alter Hut sein. In der virtuellen Welt der sozialen Medien aber ist es nichts weniger als die alles beherrschende, alles entscheidende Megafrage der Gegenwart. Und natürlich stellt das Konservative als Grenze des nicht-rechten Spektrums in dieser so bipolar geführten Auseinandersetzung mit existenziellen Ausmaßen eine prekäre Größe dar. Dementsprechend kann die Rückkoppelung digitaler Meinungsklimata im echten Leben dramatische Konsequenzen haben. Das gilt natürlich allem voran für diejenigen, die Rechten ein Dorn im Auge sind und bedroht oder gleich ermordet werden. Verglichen damit ist es freilich eine Lappalie, wenn nur der gute Ruf derjenigen leidet, die zu Unrecht in die rechte Ecke geraten. Trotzdem bleibt ebendiese Nuance fraglich, nämlich: Was ist rechts? Und vor allem: Wer entscheidet darüber?
Hier wird Differenzierung aus zwei Gründen zu einem gefährlichen Terrain: Erstens, weil im Zuge einer langen Assoziationskette die Kritik an einer Instrumentalisierung des Antifaschismus zur AfD führt – für die es das Problem der Radikalisierung scheinbar ausschließlich bei der Antifa und im Islamismus gibt – und von dort aus über die Herren Höcke und Kubitschek bis tief in den schlimmsten braunen Morast. In dieser Hinsicht ist das „Reden mit Rechten“ mindestens so riskant wie das „Reden über Linke“.
Kaum Berechtigung für das Konservative
Zweitens haben nicht genügend tonangebende Akteure ein ausreichend großes Interesse, diese Assoziationskette an der „richtigen“ Stelle zu unterbrechen. Die (Vor-)Sorge gilt hier der Salonfähigkeit rechten Gedankenguts durch das Anbieten von Bühnen und Foren. Etwaige Repräsentationslücken im System sind dabei keine Problembeschreibungen, sondern ein um jeden Preis zu verteidigender Idealzustand. Um der Normalisierung des Rechtsradikalismus in diesem Sinn vorzubeugen, war und bleibt es quasi ein Gebot der Stunde, um die AfD einen abschreckenden Bannkreis aus zwangsverorteten konservativen Sympathisanten zu ziehen. In dieser Logik müsste es Kretschmann zum Verhängnis werden, dass er sich überhaupt auf einen Begriff einlässt, den vor ihm bereits ein Gauland im Munde führte.
So erfreulich die Renaissance des Konservativen in der politischen Literatur aus bürgerlicher Sicht sein mag, wozu auch Andreas Rödders jüngst erschienene Programmschrift „Konservativ 21.0“ zählt; sie zielt an der gesellschaftlichen Realität vorbei. Wenn das zwischen die Fronten geratene Konservative überhaupt noch eine Berechtigung hat, dann als Grenze im Sinne eines funktionierenden Schutzraums für all jene, die gegen rechts sind. Aber nicht um den Preis, jeden noch so bizarren linken Anspruch auf Interpretationshoheit tolerieren zu müssen.
Schlechterdings können das weder Abgrenzungsschriften leisten, mögen sie auch sehr intelligent und elaboriert sein, noch eignen sich Parteien, da sie im Gegensatz zum Privatmann die Freiheit genießen, sich jederzeit neu zu erfinden: Wer sich jetzt für die FDP in Thüringen um Differenzierung bemüht oder während der Asylkrise der CSU gegenüber konstruktiv begegnet sein sollte, wird die Folgen in den sozialen Medien auch dann noch zu spüren bekommen, wenn längst die nächsten Jamaika-Verhandlungen anstehen.
Ein positives, optimistisches und trotzdem profiliertes konservatives Bekenntnis, auf das sich in den sozialen Medien und darüber hinaus jedermann gefahrlos beziehen kann und das dennoch auf keinerlei Wohlwollen Dritter angewiesen ist, bleibt somit weiterhin ein unerfülltes Desiderat – und eine Schwachstelle gegen rechts.
Unser Autor Philipp Mauch (43) arbeitet als Management-Stratege in München und ist bekennender Konservativer. Er hat über Nietzsche promoviert und grübelt in seinem Blog „Variationen der Alternativlosigkeit“ über Deutschlands politische Kultur.