Das Massaker von Lommatzsch

Lommatzsch. April 1945. Das kleine Städtchen Lommatzsch wurde bisher vom Krieg weitgehend verschont. Viele Zwangsarbeiter waren in der Stadt untergebracht, Flüchtlingstrecks aus dem Osten zogen durch die Lommatzscher Pflege. Nach der Bombardierung von Dresden wurden viele Verwundete in der Stadt gepflegt. Doch die Stadt selbst blieb vom Krieg weitestgehend verschont.
Das änderte sich am 26. April. Die Kampflinien zogen sich rund um die Stadt. An jenem Tag nahm die Rote Armee Lommatzsch ein. "Der Krieg brach mit voller Wucht über das Gebiet herein. Es kam zu Plünderungen, nachdem die Russen die Geschäfte dafür freigegeben hatten", sagt Bürgermeisterin Anita Maaß (FDP), die sich für eine Ausstellung im Museum ausführlich mit den damaligen Ereignissen vertraut gemacht hatte. Auch Zwangsarbeiter, die inzwischen freigelassen wurden, beteiligten sich an den Plünderungen.
Doch drei Tage später kehrte die SS zurück. "Die Ladenbesitzer ließen sich die Plünderungen nicht gefallen, die SS nahm diese Menschen fest", sagt sie. Doch nicht nur das. Sie wurden am 29. April, also zehn Tage vor Kriegsende, an der Kirche erschossen.

Unter den Toten befand sich auch Heinz Leichtweiß, ein 16-jähriger Flüchtlingsjunge aus Ostpreußen. "Er hatte ein Akkordeon bei sich, das ihm ein sowjetischer Soldat geschenkt hatte. Es stammte aus den Plünderungen, aber der Junge war daran nicht beteiligt", so die Bürgermeisterin. Der ehemalige Lommatzscher Pfarrer Roland Hartzsch hat sich mit Konfirmanden vor 14 Jahren mit den damaligen Ereignissen in Lommatzsch und dem Schicksal des Flüchtlingsjungen beschäftigt.
"Gegen das Vergessen" heißt die 200-seitige Dokumentation, die damals entstand und unter anderem im Stadtmuseum zu sehen ist. Ausführlich wird darin auch das Ende von Heinz Leichtweiß geschildert: "Von SS-Leuten wird der 16-Jährige am 29. April 1945 zur Lommatzscher Kirche geführt. Der erste Schuss des SS-Mannes verfehlt sein Ziel, der zweite trifft den Jungen in die Brust. Schreiend vor Schmerzen und röchelnd bricht er zusammen. Die dritte Kugel ist ein Kopfschuss", heißt es darin.
Der Mörder wird später zum Tode verurteilt, die Strafe jedoch in 15 Jahre Haft umgewandelt. Hedwig Bildhauer, die Mutter des Ermordeten, hatte dies beantragt. Der Mörder Georg Schmidt wurde 95 Jahre alt. Pfarrer Roland Hartzsch hat ihn in Lommatzsch ebenso beerdigt wie Hedwig Bildhauer.
Ein halbes Jahr lang haben die jungen Leute akribisch in Archiven gestöbert, Zeitzeugen befragt, Zeitungsartikel und andere Dokumente ausgewertet. Nachzulesen ist darin auch, dass an jenem 29. April 1945 außer dem deutschen Jungen auch 35 ausländische Zwangsarbeiter von den Nazis erschossen wurden. Beerdigt sind sie in einem Massengrab auf dem Lommatzscher Friedhof. Die meisten von ihnen arbeiteten in der Konservenfabrik und in anderen Betrieben der Stadt. Trotz intensiver Nachforschungen ist es nicht gelungen, die Namen der Ermordeten herauszufinden. Sicher ist nur, dass es Zwangsarbeiter aus der Ukraine, aus Weißrussland und aus Polen waren.
Gesprochen hatten die Konfirmanden auch mit dem zu Kriegsende sechs Jahre alten Gottfried Münch. Die Pistolenschüsse und die entsetzten Schreie der Augenzeugen hatte er noch immer im Ohr. Berichtet wird auch von Plünderungen und vom Brand der Kirche, den die Einwohner löschen konnten. Horst Schmidt, ein weiterer Augenzeuge, wurde damals vom Artilleriefeuer geweckt und sah die ersten toten Russen in der Stadt. "Wir alle befürchteten Vergeltungsmaßnahmen", schrieb er später in einem Zeitungsartikel. Zu dieser Vergeltung kam es dann auch. Vor allem die Frauen hatten unter Vergewaltigungen zu leiden.
Recherchiert haben die Konfirmanden auch im Totenbuch des Lommatzscher Friedhofes. Von Februar bis April 1945 finden sich dort 198 Eintragungen. Allein 28 Dresdner, die den Bomberangriff auf ihre Stadt überlebt hatten, starben in Lommatzsch. 34 Kinder zwischen ein und zwei Jahren mussten beerdigt werden, zehn Menschen nahmen sich aus Verzweiflung das Leben, als die Russen anrückten. 27 Lommatzscher starben durch Feindeinwirkung, also durch Granatsplitter und ähnliches, 16 an Krankheiten wie Ruhr oder Typhus. Mehr als die Hälfte der Toten waren auf direkte oder indirekte Folgen des Krieges zurückzuführen.
Eine Gedenkplatte aus Glas an der St. Wenzel Kirche, die Pfarrer Hartzsch anbringen ließ, mahnt und erinnert heute an dieses schreckliche Ereignis. Die Bürgermeisterin möchte die Lommatzscher ermuntern, in diesen Tagen einmal bewusst an der Gedenkstelle vorbeizulaufen und kurz inne zuhalten. "Lernen wir eigentlich aus Geschichte etwas für unsere heutige Zeit? Ich habe momentan so meine Zweifel. Corona bleibt nicht ohne Folgen für viele Menschen, für die Wirtschaft in vielen Ländern, und eben deshalb auch für die Politik der Länder untereinander. Ich hoffe, die Zeit nach der Krise bringt mehr Miteinander und kein neues Gegeneinander. Meine aktuelle Wahrnehmung lässt mich leider skeptisch sein, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt", sagt sie.