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Das Organ, das nachwächst

Albrecht Hiersemann hatte einen Lebertumor – zwei Mal. Gut, dass die Leber so erstaunliche Eigenschaften hat.

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© hübschmann

Von Anna Hoben

Die Leber ist ein faszinierendes Organ: Nach einer Belastung, etwa durch Umweltgifte oder Medikamente, erholt sie sich extrem schnell. Man kann bis zu 80 Prozent von ihr entfernen, und sie ist immer noch funktionstüchtig. Nach wenigen Wochen ist der verbliebene Teil schon wieder um ein Drittel nachgewachsen.

Über all das hatte sich Albrecht Hiersemann aus Strehla keine Gedanken gemacht, als er im Frühjahr 2012 zu seiner Hausärztin ging. Zehn Kilogramm hatte er da schon abgenommen. Die Ärztin tippte auf eine Krankheit der Nieren und überwies ihn ans Nierenzentrum in Riesa – Fehlalarm. Im Krankenhaus in Oschatz gab es den ersten Verdacht auf Leberkrebs. „Die Diagnose fühlte sich an wie ein Schlag mit dem Hammer“, sagt der heute 81-Jährige. Ein feingeweblicher Befund brachte die Gewissheit: In der Leber des Patienten saß ein Tumor, etwa 15 Zentimeter groß. „In der Anfangszeit ging mir alles durch den Kopf“, sagt Hiersemann. Auch der Gedanken, sein Leben selbst zu beenden. Doch er entschied sich dafür, zu kämpfen.

Eine familiäre Vorgeschichte gab es nicht, das ist bei Leberkrebs selten. Doch Hiersemann und seine Frau hatten jahrelang eine Autowaschanlage betrieben. Chemikalien bei bestimmten Reinigungsvorgängen könnten für die Erkrankung verantwortlich sein, vermutet seine Frau heute. Möglich ist das, sagt Dr. Roland Zippel, Chefarzt für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie am Elblandklinikum Riesa. Toxische Stoffe erhöhen das Risiko für Leberkrebs. Auch eine Leberzirrhose – bedingt durch eine Infektion oder durch Alkohol – kann die Gefahr steigern. Das war bei Hiersemann jedoch nicht der Fall.

Am Elblandklinikum Riesa, so erzählt seine Frau, sei er wieder aufgebaut worden. Ein sogenanntes Tumorboard, ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Spezialisten, besprach seinen Fall. Und schließlich entschied sich Dr. Zippel, zu operieren. „Ich war mir erst nicht sicher, ob es funktioniert“, sagt der 53-Jährige. Denn auch wenn man große Teile der Leber entfernen kann, muss der Chirurg zwei Dinge beachten. Erstens: Wichtige Strukturen im Organ müssen erhalten werden – Pfortader, Arterie, Lebervenen und Gallensystem. Zweitens: Für das Volumen der Leber gibt es einen Richtwert; es sollte auch nach der Operation mindestens 0,5 Prozent des Körpergewichts an funktionstüchtigem Lebergewebe verbleiben. Bei einem Gewicht von 80 Kilogramm wären das 400 Gramm. Im Herbst 2012 wurde Albrecht Hiersemann operiert; alles ging gut.

Im April dieses Jahres dann die böse Überraschung: Bei einer Untersuchung stellten die Ärzte fest, dass sich ein neuer Tumor gebildet hatte. Wieder kam das Tumorboard zusammen, wieder wurde über verschiedene Behandlungsalternativen diskutiert. Da gibt es zum Beispiel die thermische Zerstörung oder auch „das Verkochen“, wie Dr. Zippel es nennt. Dabei geht man mit einer Nadel an den Tumor heran und zerstört ihn mit Hilfe von Hochfrequenz oder Mikrowellen. Bei Albrecht Hiersemann war das aber nicht möglich, weil der Tumor oberflächlich war und die Behandlung wichtige Nachbarstrukturen in Mitleidenschaft gezogen hätte.

Es musste also nochmals operiert werden. Das versprach eine deutlich bessere Chance auf Heilung. Zwar war der zweite Tumor kleiner als der erste – die Herausforderung lag aber darin, dass auch die Restleber viel kleiner war als das ursprüngliche Organ. Der Chirurg musste also noch vorsichtiger sein. „Nur wenige trauen sich an eine zweite Leber-Operation heran“, sagt Dr. Zippel. Er gehört zu den wenigen. Deshalb ist ihm das Vertrauensverhältnis zum Patienten wichtig. Bei schwierigen Operationen steigt nicht nur die Verantwortung, sondern auch das Risiko. Der Chirurg trifft eine Übereinkunft mit dem Patienten. „Er will operiert werden und kennt die Chancen, gleichzeitig ist er auch über die Risiken informiert“, sagt Dr. Zippel. Während der Operation ist er dann ganz allein. Natürlich sind Assistenten dabei, doch letztlich muss er die Entscheidungen treffen. „Den Patienten kann ich nicht aufwecken und fragen.“

Manöverkritik am Abend

Wenn ein komplexer Eingriff ansteht, sechs bis zwölf Stunden im Operationssaal, ist Dr. Zippel morgens eine Stunde früher wach als sonst. „Da würde ich am liebsten sofort loslegen und kann es kaum erwarten“, sagt er. In Gedanken spielt er vorher verschiedene Szenarien durch. Wenn sich hinterher herausstellt, dass sein Plan aufgegangen ist, wenn es so gelaufen ist, wie er es sich vorgestellt hat, schaut er mit einem guten Gefühl in den Spiegel. „Da entsteht eine hohe Zufriedenheit.“ Abends zu Hause rekapituliert er noch einmal alles, eine Art Manöverkritik mit sich selbst.

Albrecht Hiersemann hat im Mai seine zweite Operation hinter sich gebracht. Sein Leben ist nicht mehr dasselbe, seit er krank ist. Er kann seine Socken nicht allein anziehen, weil er Angst hat, dass die Narbe aufplatzt. Wenn im Haus etwas kaputt ist, kann er es nicht mehr selbst reparieren. Seine Frau hat ihm einen strengen Ernährungsplan verordnet. Manchmal, sagt er, fühle er sich wie ein halber Mensch. Dr. Zippel macht ihm Mut: Bald werde seine körperliche Leistungsfähigkeit zunehmen und die Bauchdecke verheilt sein.