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Das planten die Nazis in Tschechien

Vor 80 Jahren besetzte die Wehrmacht Böhmen und Mähren. Nach einem klaren Szenario, sagt ein Historiker.

Von Steffen Neumann
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16. März 1939: Diktator Adolf Hitler auf der Prager Burg.
16. März 1939: Diktator Adolf Hitler auf der Prager Burg. © Imago Stock & People

Herr Mohn, am 15. März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Prag ein und errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis heute in der tschechischen Wahrnehmung?

Es bis heute sehr präsent. Nicht nur durch Historiker, sondern auch in der Literatur, in den Printmedien oder natürlich in Film und Fernsehen wird nach wie vor viel über die Besatzungszeit gesagt und geschrieben. Die Bandbreite reicht von eindrucksvollen Spielfilmen bis hin zu diversen TV-Produktionen.

Mit dem Protektorat ist häufig die Vorstellung verbunden, die Tschechen hätten eine relative Autonomie mit eigener Regierung und Verwaltung genossen.

Auch wenn aus taktischem Kalkül heraus Freiräume gewährt wurden, kann man von einer wirklichen Autonomie zu keinem Zeitpunkt sprechen. Sie stand für Hitler niemals auch nur zur Debatte. Das Regime kam den Tschechen in dieser Frage nur scheinbar entgegen. Zwar setzten die meisten tschechischen Behörden nach der Besetzung ihre Arbeit fort, doch stand ihnen eine deutsche Verwaltung gegenüber, die immer wieder gezielt eingriff und alle wichtigen Felder letztendlich selbst kontrollierte. Zudem waren bestimmte Bevölkerungsgruppen wie vor allem Menschen jüdischer Herkunft, Roma, Behinderte, Homosexuelle und andere Minderheiten von vornherein von jeglichen Zugeständnissen ausgeschlossen.

Volker Mohn (1979) studierte Geschichte in Düsseldorf und Prag. Er promovierte später zum Protektorat Böhmen und Mähren.
Volker Mohn (1979) studierte Geschichte in Düsseldorf und Prag. Er promovierte später zum Protektorat Böhmen und Mähren. © privat

Trotzdem stellt sich die Frage, warum Hitler in diesem Fall zum Instrument eines Protektorats griff. Warum wurde das Gebiet nicht gleich Teil Deutschlands oder zu einem Satellitenstaat wie die Slowakei?

Das Regime entschied sich nur für eine begrenzte Dauer für diesen Weg. Spätestens nach einem Kriegsende, wie es sich die Nazis vorstellten, waren viel radikalere Maßnahmen vorgesehen: Vorgesehen war eine totale Einverleibung Böhmens und Mährens in das Deutsche Reich. Verbliebene tschechische Einwohner sollten „germanisiert“, ausgesiedelt und zum Teil auch physisch liquidiert werden. Die scheinbaren Zugeständnisse waren wieder rein taktisches Kalkül. Aus Sicht des Regimes war es zentral, das Land, seine Ressourcen und Industrien für die deutsche Kriegswirtschaft zu nutzen. Große Waffenschmieden wie die Škoda-Werke in Pilsen waren für die deutsche Rüstung von immenser Bedeutung. Wichtiges Ziel deutscher Besatzungspolitik war es, deren Ausnutzung sicherzustellen und die Lage zu beruhigen. Die Tschechen sollten von politischen Forderungen oder gar offenem Widerstand abgelenkt und in Bereiche gedrängt werden, die für das Regime vergleichsweise „ungefährlich“ waren. Das konnten Alltagsprobleme und auch der Kulturbereich sein. In der Zeit vor Kriegsbeginn war es auch noch außenpolitische Rücksichtnahme, die zu scheinbaren Zugeständnissen führte.

In Tschechien bewegt sich die Einordnung des Umgangs der eigenen Leute mit den Besatzern zwischen Widerstand und Kollaboration. Wie ist Ihre Einordnung?

Natürlich gibt es Fälle, die man eindeutig beiden Kategorien zuordnen kann. Häufig ist das aber nicht so einfach. Es fällt schon schwer, beide Begriffe zu definieren: Was fällt alles unter Widerstand – und was nicht? Dass beide Kategorien zudem moralisch aufgeladen sind, macht eine genaue Analyse einzelner Fälle nicht einfacher.

Die allermeisten Tschechen lehnten das Besatzungsregime ab. Und doch standen sie aus den verschiedensten Gründen immer wieder vor der Frage, inwieweit sie Kompromisse eingehen sollten – und sei es, um durch Zugeständnisse Schlimmeres zu verhüten. Das Problem war nur, dass das Regime diese Zwickmühle oft genug bewusst ausnutzte.

Sie haben ein Buch über die nationalsozialistische Kulturpolitik im Protektorat veröffentlicht. Welche Rolle spielte die Kulturpolitik in der Strategie der Besatzer?

Laut NS-Propaganda entwickelte sich unter deutscher Besatzung für die tschechische Kultur eine Blütezeit. Mit der Realität hatte das nicht viel zu tun. Doch trotz aller Einschränkungen und Verbote blieben für Künstler und Publikum vergleichsweise große Freiräume bestehen. Im Prager Nationaltheater wurde Smetana aufgeführt, literarische Klassiker des 19. Jahrhunderts wurden neu aufgelegt und entwickelten sich zu Bestsellern. Hierzu muss man verstehen, dass die Kulturpolitik immer Teil der Besatzungspolitik war und sich an deren Zielen orientierte. Das Regime duldete tschechische Konzerte und Aufführungen nicht, weil es diese fördern wollte oder gar mochte, sondern ganz klar aus politischem Kalkül. Auch im Kulturbereich verfolgte man im Amt des Reichsprotektors das Ziel, den Menschen durch scheinbare Zugeständnisse das „Abwarten“ zu erleichtern und sie dadurch auch vom Widerstand abzuhalten.

Ihr Buch ist 2018 auch auf Tschechisch erschienen und verkauft sich dort deutlich besser als in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

Ich freue mich sehr, dass die Übersetzung auf eine gewisse Resonanz stößt. Während mein Buch in Deutschland fast ausschließlich in Fachkreisen wahrgenommen wurde, ist das Thema in Tschechien auch für eine breitere Öffentlichkeit spannend. Dazu trägt natürlich bei, dass viele Schauspieler, Schriftsteller und Musiker aus dieser Zeit bis heute bekannt und beliebt sind. Das Thema ist also alles andere als abstrakt für die Menschen.

Der Blick auf die deutsch-tschechische Geschichte des 20. Jahrhunderts war oft ein schmerzlicher und von vielen Animositäten gekennzeichnet. Wie ist die Situation unter tschechischen und deutschen Kollegen heute? Gibt es noch weiße Flecken?

Auch über ehemals hochemotionale Punkte wird mittlerweile fast immer sachlich und konstruktiv diskutiert. Tschechische und deutsche Historiker sprechen in diesen Fragen nicht nur miteinander, sondern forschen oft auch gemeinsam und frei von Berührungsängsten. Das funktioniert bei Plattformen wie der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, aber auch im Kleinen. Bei meinen eigenen Recherchen durfte ich ebenfalls erleben, wie engagiert tschechische Kollegen meine Arbeit immer wieder mit Rat und Tat unterstützten. Mit Blick auf frühere Debatten und ehemalige „weiße Flecken“ in der Forschung ist das eine Entwicklung, die Mut macht.

Volker Mohns Buch „NS-Kulturpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren“ erschien 2014 im Klartext-Verlag Essen.
Volker Mohns Buch „NS-Kulturpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren“ erschien 2014 im Klartext-Verlag Essen. © privat

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