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„Das Radio macht mich süchtig“

Nanu? Was machen die Teenie-Popper von Tokio Hotel in der Seniorenredaktion? Marlies Sollwedel klärt auf: „Das ist eine der wenigen Jugendgruppen, die deutsch singen“, sagt sie. Andere CDs liegen bereit, die Prinzen, Holger Biege, Aufnahmen des Chors von Kurort Hartha.

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Von Jörg Stock

Nanu? Was machen die Teenie-Popper von Tokio Hotel in der Seniorenredaktion? Marlies Sollwedel klärt auf: „Das ist eine der wenigen Jugendgruppen, die deutsch singen“, sagt sie. Andere CDs liegen bereit, die Prinzen, Holger Biege, Aufnahmen des Chors von Kurort Hartha. Es ist das musikalische Beiwerk für die neue Sendung: Deutsche Sprache, wo gehst du hin?

Marlies Sollwedel, 66, aus Dorfhain, ehemals Sparkassenbedienstete und jetzt Rentnerin, ist unter die Radiomacher gegangen. Sie bastelt beim sächsischen Ausbildungs- und Erprobungskanal im Dresdner Pentacon Sendungen zusammen oder steht selbst am Mikrophon. Und das mit Leidenschaft. „Wenn ich mal nicht kommen kann, krieg’ ich Entzugserscheinungen“, sagt sie. „Das macht süchtig.“

Marlies Sollwedel gehört zur Seniorenredaktion beim Medienkulturzentrum Dresden. Der Verein betreibt den Erprobungskanal und gibt normalen Bürgern die Chance, sich an modernen Medien auszuprobieren. Im Jahr 2005 entdeckte Marlies Sollwedel einen Artikel in der SZ: „Senioren lernen Radio machen“, stand da, und es wurden Lehrgangsteilnehmer gesucht. Frau Sollwedel meldete sich.

Aufhören war unmöglich

In fünf Tagen lernten die Senioren die Grundlagen der Radioproduktion, Interviewtechniken, Moderation, Musikauswahl. Resultat des Kurses war eine einstündige Radiosendung. Um Frau Sollwedel war es da schon geschehen. „Ich konnte einfach nicht aufhören“, sagt sie. Das ging den anderen ähnlich. Ein Großteil der Anfänger von damals ist bis heute bei der Seniorenredaktion geblieben.

Zurzeit gibt es achtzehn Seniorenredakteure zwischen Anfang sechzig und Anfang achtzig. Sie treffen sich alle vierzehn Tage donnerstags zur Sitzung. An einer Sendung arbeitet nicht das komplette Gremium sondern eine Gruppe von drei, vier Leuten. Dabei geht es nach Interessenlage und auch nach Befindlichkeit. Nicht jeder kann mit jedem, sagt Frau Sollwedel. Hin und wieder prallen die Meinungen hart aufeinander und es wird auch mal laut. „Am Ende kriegen wir aber immer die Kurve“, sagt sie.

Das Seniorenradio produziert jeden Monat eine Magazin- und eine Musiksendung. Immer mittwochs 19 bis 20 Uhr ist man auf Sendung. Die Beiträge werden je einmal wiederholt und außerdem auf CD gebrannt. Weil das Seniorenradio nur im Internet zu hören ist, wissen die meisten gar nichts von der Existenz des Programms. Marlies Sollwedel verschenkt deshalb gern die CDs mit den Sendungen an Bekannte. „Die Leute sind dann oft überrascht und finden das ganz toll!“

Die Radiomacher packen querbeet Themen an: Deutsche Einheit, Bombenangriff auf Dresden, altes Handwerk, der Große Garten, Erich Kästner, Haydn und Mendelssohn. Auch Hörspiele wurden schon produziert, oder man plauderte einfach mal aus der eigenen Kindheit unter dem Motto „Damals war’s“.

Marlies Sollwedel hat durch das Radio nicht nur gute Kollegen gewonnen, sondern auch Wissen. Bei jeder Recherche lernt man so viel, sagt sie. Sie hört jetzt auch anders Radio. Sie bewundert die Profis, die locker ihr Programm abspulen. Denn sie weiß, wie schwer das eigentlich ist. Sie selbst will ihrer Sucht nach dem Mikrophon weiter Futter geben. Eine Entziehungskur kommt für Seniorenredakteurin Marlies Sollwedel nicht infrage.

Radio im Netz: www.saek.de