Das verschwundene Dorf

Kein Haus weit und breit, nur ausgedehnte Wiesen, auf denen sich das hochgewachsene Gras im Wind neigt, und kleine Waldstücke dazwischen. So präsentiert sich die Landschaft entlang der sächsisch-böhmischen Grenze zwischen Cinovec (Böhmisch Zinnwald) und dem Mückenberg bei Vojtovice. Doch es sah hier nicht immer so aus.
Noch vor 75 Jahren standen Häuser an der schmalen Straße und lebten hier Menschen. Der Ort nannte sich Vorderzinnwald. Heute erinnert auf den ersten Blick nichts mehr an das Dorf. Die deutschen Bewohner mussten nach dem Krieg ihre Heimat in Böhmen verlassen, und die Häuser wurden Anfang der 1950er-Jahre ausnahmslos abgerissen. Seitdem wächst im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache.
Doch wer etwas genauer hinsieht, erkennt sie noch, die Spuren der Vergangenheit. Wo einmal Häuser standen, erheben sich an vielen Stellen zugewachsene Hügel. Hier und da sind die Reste einer Mauer zu sehen. Die Neugier auf diesen oft verdrängten Teil der Geschichte, dem Leben auf der tschechischen Seite des Erzgebirges bis zur Vertreibung, führte kürzlich 20 Teilnehmer des HeuHoj-Naturschutzcamps aus Tschechien, Deutschland und der Slowakei auf Spurensuche zum Butterwinkel. So nannte sich ein Teil von Vorderzinnwald direkt an der Grenze. Für Werner Burock war es einmal die Heimat. Hier stand sein Geburtshaus. Der 77-Jährige begleitete die Campteilnehmer auf der Exkursion in die Vergangenheit, um ihnen zu erzählen, wie es hier einmal war. An seiner Seite ist seine Frau Margit. Sie wurde zwar nicht mehr in Vorderzinnwald geboren, doch ihre Eltern wohnten bis 1948 hier. Mit Kinderwagen und dem nötigsten flohen sie bei Nacht und Nebel als die letzten Vorderzinnwalder über die Grenze, um der drohenden Umsiedlung ins Landesinnere zu entgehen.

„Ich war damals gerade vier Jahre alt, aber an einige Sachen erinnere ich mich bis heute, wie den Brand von Dresden. Diesen roten Himmel am Horizont hinter dem Geisingberg werde ich nicht vergessen. Und ich habe viel aus den Erzählungen meiner Eltern in Erinnerung behalten“, sagt Werner Burock bei der Wanderung von der Straße hinunter zum früheren Butterwinkel. In der Ferne sind die Häuser von Fürstenau zu sehen. Dann zeigt er mit dem Stock hinunter ins Tal. „Hier stand unser Haus“, sagt er und holt ein altes Foto heraus. Der Blick zu Kohlhaukuppe und Geisingberg ist der gleiche wie damals. Die vornehmlich jungen Ausflugsteilnehmer hören zu und versuchen, sich vorzustellen, wie es hier einmal aussah. Es muss ein hartes Leben am Erzgebirgskamm gewesen sein, nicht nur wegen des rauen Klimas. Bis 1945 gab es in Vorderzinnwald keinen Strom. Nur das Haus des Arztes hatte ein eigenes Aggregat.

Plötzlich kommt Aufregung in die Gruppe. Mitten in der Wiese klafft ein dunkles Loch. Was sich dort wohl verbergen würde? Schließlich schaut ein Mutiger hinein und verschwindet darin. Kurz darauf kommt der Kopf wieder zum Vorschein. Sie haben einen alten Keller entdeckt. Er ist allerdings leer. Weitere unversehrte Keller tauchen auf. Der Slowake Juraj Ficik bringt aus einem die Reste einer Uhr heraus. Das Werk ist verrostet und kaum noch erkennbar, doch es ist ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Vielleicht hat die Uhr mal in einer Küche getickt. Immer neue Fundstücke lassen sich in der Erde entdecken, alte Ackergeräte, Milchkannen, ein Waschbecken.

Für Deutsche und Tschechen ist es gleichermaßen aufregend, die Relikte zu finden. Es ist eine Erinnerung an die einst hier lebenden Menschen, die fast in Vergessenheit geraten wäre. Gerade deshalb gingen die Teilnehmer des Heulagers auf Exkursion. „Die neue Generation fühlt sich in die früheren Geschehnisse nicht mehr eingebunden, ist davon nicht mehr unmittelbar berührt. Deshalb gibt es auch in Tschechien ein neues, unbefangeneres Herangehen an die jüngere Geschichte. Leider ist es fast schon zu spät, um Zeitzeugen zu treffen und mit ihnen zu reden. Deshalb sind wir so froh, dass uns Burocks begleiten“, erzählt die Tschechin Jitka Pollakis, die das Camp mit organisiert.
Werner Burock steht inzwischen allein mitten im Wald. Sein Blick schweift über einige bemooste Bäume und einen offensichtlich eingestürzten Keller. Genau hier stand sein Geburtshaus. Viele Jahrzehnte hatte es gedauert, ehe er Anfang der 1990er-Jahre erstmals hier wieder stand. Für den 77-Jährigen ist es mittlerweile ein Ort der Erinnerung, doch zur Heimat wurde für ihn das sächsische Zinnwald.

Für die Exkursionsteilnehmer war es aber nicht nur ein Ausflug in die Spuren der Vergangenheit. Durch den jahrzehntelangen Dornröschenschlaf der Region holte sich die Natur verlorenes Gebiet zurück. Viele Insekten und Pflanzen fanden hier ein Rückzugsgebiet. Der Erhalt dieser Schönheit ist auch Anliegen der Teilnehmer des von der Stadt Dubi und der Grünen Liga Osterzgebirge veranstalteten HeuHoj-Camps, die unter anderem in diesem Jahr auch eine Naturschutzwiese bei Adolfov (Adolfsgrün) gepflegt haben. (Kamprath)