Paula nimmt den Schlüssel vom Haken und rennt in die Apotheke. Die Zehnjährige ahnt zwar, dass sie ohne Rezept die Medikamente für ihre Mutter nicht bekommen wird, aber sie weiß sich nicht anders zu helfen. „Mama kann nicht aufstehen, sie braucht ihre Tabletten“, sagt sie verzweifelt zur Apothekerin. Die kennt sie, greift zum Telefon und ruft den Arzt an. Es ist nur ein Theaterstück, doch es ist auch Realität. Was die Kinder hier spielen, ist ihr Alltag – der Alltag mit einem psychisch kranken Elternteil.
Die kleinen Inszenierungen sind Bestandteil des Workshops „Kidstime“, den es seit etwa einem halben Jahr speziell für diese Kinder im Heinrich-Braun-Klinikum Zwickau gibt. Einmal monatlich treffen sich zunächst acht betroffene Familien in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Michael Arnold, Psychologe und systemischer Familientherapeut, hat das Projekt in Sachsen etabliert.
Es stammt ursprünglich aus England und wurde 2015 erstmals im niedersächsischen Rothenburg angeboten. „Die Kinder setzen sich über das Spiel mit Problemen auseinander, die sie gerade beschäftigen. So sind sie oft auf sich gestellt, wenn die Eltern einen Krankheitsschub durchmachen, und es gibt auch jüngere Geschwister, die versorgt werden müssen“, so Arnold. Es mache schon betroffen, so etwas zu sehen.
„Es ist eine gefährliche Rollenumkehr“, sagt Cornelia Stefan, Chefärztin der psychiatrischen Klinik. Die Kinder spüren zwar, dass in ihrer Familie etwas anders ist, aber sie können es nicht einordnen und erst recht nicht ändern. 70 Prozent dieser Kinder haben deshalb Anpassungsprobleme, zum Beispiel in der Schule. Von Gleichaltrigen werden sie oft ausgegrenzt, sie hören abfällige Bemerkungen über ihre Eltern – „die Psychos“. Dieses Anderssein, die Ausgrenzung und die erbliche Komponente erhöhen aber auch ihr Risiko, selbst psychisch zu erkranken. „Kinder psychisch kranker Eltern haben ein viermal höheres Risiko, selbst Auffälligkeiten und Symptome wie ihre Eltern zu entwickeln“, sagt die Chefärztin. Schätzungen gehen deutschlandweit von mindestens drei Millionen Kindern aus, in deren Familien mindestens ein Elternteil psychisch krank ist.
Erfahren, wie sich Schmerz anfühlt
„Im Workshop sprechen wir darüber“, so Arnold. Die Eltern können sich mit therapeutischer Begleitung in einem getrennten Bereich mit anderen Betroffenen austauschen. Die Kinder erfahren indes, wie psychische Krankheiten entstehen und behandelt werden. „Die Kinder sind dann sehr erleichtert, müssen sich aber immer wieder rückversichern, denn sie geben sich die Schuld an der Krankheit ihrer Eltern“, sagt Michael Arnold. Nicht ohne Grund, hören sie doch oft Sätze wie: „Wegen dir habe ich jetzt mehr Stress.“ „Willst du, dass ich wieder krank werde?“ Natürlich wollen sie das nicht und schlucken deshalb manches Problem herunter, anstatt sich bei ihren Eltern Unterstützung und Zuspruch zu holen. „Betroffene Kinder haben nachweislich schlechtere Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt Cornelia Stefan. Um das zu verhindern, gebe es das präventive Angebot.
Profitieren könnten beide Seiten von diesen Workshops. Die Eltern lernen, anders mit ihren Kindern zu kommunizieren, um ihnen keine Schuldgefühle zu bereiten. Die Kinder bekommen Mittel und Wege aufgezeigt, wie sie reagieren können, wenn ihre Eltern so etwas sagen. Oft sei das ein Hilferuf der Eltern. Das müssten die Kinder richtig einordnen lernen. „Sie packen sich im Workshop zum Beispiel einen kleinen Notfallrucksack. Darin sind wichtige Rufnummern von der Großmutter oder einer Nachbarin, die in solchen Situationen helfen. Auch ein Spielzeug oder ein Bild kann ihnen Halt geben und sie vor Kurzschlussreaktionen bewahren“, sagt Chefärztin Stefan.
Ärzte und Therapeuten haben aber auch die Chance, psychische Veränderungen der Kinder früher zu erkennen. Zum Beispiel bei Anton. Er verhielt sich sehr aggressiv und konnte kein Nein akzeptieren, ohne um sich zu schlagen. Der Achtjährige ist jetzt in der Tagesklinik, nimmt aber regelmäßig an den Workshops teil.
Seine Mutter Carola aus Zwickau leidet schon jahrelang an Depressionen. Zweimal war sie deshalb in stationärer und mehrfach in ambulanter Behandlung. Jetzt fühlt sie sich wieder in der Lage, eine ehrenamtliche Tätigkeit auszuüben. Die Arbeit tut ihr gut, doch oft fehlt ihr der Antrieb. „Meine Kinder wissen dann genau, wie sie mich mobilisieren können. Denn wenn ich nicht aufstehe, geht es mir noch schlechter – auch das wissen sie“, sagt die 36-Jährige. Sie schämt sich, nicht wie andere Mütter für ihre Kinder da sein zu können. Die Krankheit ist ihr Handicap.
Auch Zoe, Carolas Tochter, ist gerade 14 Jahre alt und in einer Wohngruppe für psychisch Kranke untergebracht. „Viel zu spät habe ich bemerkt, dass sie sich ritzt und Wunden zufügt. Einmal wollte sie sich vor ein Auto werfen, um zu erfahren, wie sich der Schmerz anfühlt. Ich bin mit ihr gleich ins Krankenhaus gefahren, Zoe blieb in stationärer Betreuung“, sagt Carola.
Das Angebot der Zwickauer Klinik ist gefragt. Empfohlen wird es zum Beispiel über die sozialpsychiatrischen Dienste, die Erwachsene in psychischen Krisen betreuen. Viele von ihnen haben auch minderjährige Kinder. „Wir führen eine Warteliste, können aber nicht mehr Teilnehmer aufnehmen, um die Qualität des Angebots nicht zu gefährden“, so Michael Arnold.
Wie in Zwickau gibt es viele solcher Initiativen und Angebote, doch keine Stelle, die sie koordiniert. „Wir erreichen höchstens 25 Prozent der betroffenen Kinder“, sagte Julian Dilling vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Er forderte deshalb, die Projekte der verschiedenen sozialen Bereiche besser zu vernetzen und wohnortnah bekannt zu machen. Ausgebaut werden müssten auch sogenannte Patenprogramme. Die Paten kommen dann zum Einsatz, wenn Eltern in die Psychiatrie eingewiesen werden müssten. Vor allem bei Müttern und Vätern mit Suchtproblemen seien Scham und Angst vor dem Jugendamt ausgeprägt. Diese Eltern sind nicht in der Lage, selbst Hilfe für ihre Kinder zu organisieren, würden die Probleme deshalb eher geheim halten – zum Nachteil ihrer Kinder.
Carola ist heute das fünfte Mal im Workshop. „Hier wird man verstanden, denn die anderen Erwachsenen plagen ähnliche Probleme“, sagt sie. Man fühle sich weniger schlecht, wenn man wieder nach Hause geht. Auch Anton profitiere von der Kindergruppe. „Er spricht jetzt sogar über Gefühle“, sagt die Mutter.