Von Ulrike Keller
Der Zufall ist schuld! Eines Sommers lernte Lena einen pilgernden Chirurgen kennen. Der erzählte von einem Kind, dessen Finger abgenommen werden musste. Und von dem Wunder, dass dieser Finger vollständig nachwuchs. Die Schülerin aus Priestewitz war fasziniert. Ab sofort trieb sie die Frage um: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit so etwas passiert? So viel sei verraten: Gewisse Plattwürmer, bekannt als Meister der Regeneration, könnten ein Schlüssel sein. Das ist die Geschichte hinter einem der acht „Jugend forscht“-Projekte, die gestern beim Regionalwettbewerb in Nünchritz gewonnen haben. Es ist die Geschichte von Lena Stolle, Abiturientin am Landesgymnasium Sankt Afra zu Meißen.
Insgesamt beteiligten sich in diesem Jahr 29 Jungforscher mit 19 Arbeiten zu Themen aus Naturwissenschaften, Mathematik und Technik. Wer von den Siegern es nun im Landeswettbewerb schafft, wird zum Bundeswettbewerb Ende Mai delegiert. Der Regionalwettbewerb Dresden-Ostsachsen ist den Organisatoren zufolge einer der erfolgreichsten in Deutschland. In den Jahren 2001, 2007 und 2011 ging aus ihm jeweils ein Bundessieger hervor.
Rückblende: Lena Stolle fällt schon bei der Ausstellung aller Projekte am Donnerstag auf. Bei der Präsentation vor Jury und Besuchern ist ihr Stand der bunteste in der Biologen-Ecke: anschaulich, informativ, unterhaltsam. Ein grünes Plakat umreißt ihr Projekt. Auf einem kleinen Tisch findet sich neben Laptop und Mikroskop auch eine Schale mit sauren Gummitier-Würmern. Die Nascherei hat sie „als nette Auflockerung“ gedacht. „Man muss doch auch Laune auf seinen Stand machen“, sagt sie lachend. Weil sie zum Thema passen. Lena Stolle hat sich ausgiebig mit Plattwürmern befasst. Schneidet man sie in Teile, wächst aus jedem Stück ein neues Tier. Der Kopf bekommt wieder einen Schwanz, der Schwanz vervollständigt sich wieder um Körper mit Kopf. So die allgemeine Erkenntnis.
Doch die Afranerin untersuchte spezielle Plattwürmer, Exemplare aus einem Fluss im englischen Nottingham. Bis sie sich ihrer annahm, lebten sie in der Quarantäne-Station des Max-Planck-Instituts in Dresden. Das betreute dieses Projekt. Lena Stolle wollte herausfinden, ob sich auch bei dieser Nottinghamer Population wirklich jedes Stück komplett regenerieren kann. Und ob es sich vielleicht sogar um eine bislang unbekannte Spezies von Plattwürmern handelt.
Die 18-Jährige sprudelt vor Begeisterung für ihr Thema. Zwei ältere Besucherinnen erkundigen sich nach ihrem Projekt. Lena Stolle nimmt die Glasschale unterm Mikroskop hervor und greift zur Pipette. Per Wasserstrahl befördert sie den dunkelbraunen Fleck vom Rand der Glasschale in die Mitte. Kaum hat sie die Schale wieder unters Mikroskop gestellt und Licht eingeschaltet, setzt sich der Fleck in Bewegung. Wieder Richtung Rand. Was sich da bewegt, ist so ein Plattwurm. Von Natur aus lichtscheu. Das Laienauge könnte ihn für eine Kreuzung aus Kellerassel und Wasserschnecke halten. Unterm Mikroskop erinnert die Kreatur an eine sich permanent verformende Kaffeebohne. Eine der Damen schaut durchs Mikroskop. Lena Stolle erläutert: „Die schwarzen Punkte sind die Augen: Ein Tier hat je nach Größe 50 bis 80!“ Die Dame sieht nichts.
In ihren Experimenten zerschnitt die Abiturientin insgesamt acht Würmer je dreimal. Die Rasierklinge setzte sie stets an anderer Stelle an, so dass sie beobachten konnte, wie sich 24 verschiedene Stücke entwickelten. Teilte sie schließlich nur noch eine winzig kleine Schwanzspitze ab, war diese nicht mehr in der Lage einen Kopf nachzubilden. Lena Stolle bestimmte auch Chromosomensätze und entdeckte Erstaunliches: Es spricht viel dafür, dass es sich bei den Plattwürmern aus Nottingham um eine eigene Spezies handelt.
Mit Unterbrechungen anderthalb Jahre hat sich die junge Frau mit ihren „Kiddies“ beschäftigt, wie Mitschüler zwischenzeitlich witzelten. In erster Linie für eine wissenschaftliche Projekt-Arbeit, die am Landesgymnasium Sankt Afra für alle Zwölftklässler Pflicht ist und das Niveau einer Diplom- bis Doktorarbeit ansetzt. Zusätzlich reichte sie die eingedampfte Fassung bei „Jugend forscht“ ein. Und konnte da schon einmal für die Verteidigung der Arbeit in der Schule üben. Denn auch der Wettbewerb besteht neben dem schriftlichen aus einem mündlichen Teil. Aufgeregt war sie schon, als sie vorgestern vor der Fach-Jury ihr Thema vorstellen und Fragen beantworten musste. Im Nachhinein kam ihr die halbe Stunde eher „nicht schwierig“ vor. Dass unter den „Prüfern“ ein Zoologe war, freute sie. Und dass er Anregungen zu weiteren Experimenten gab, noch mehr. Als sie noch lange nicht einschätzen konnte, ob sie eine Chance haben würde, sagte sie: „Ich habe das Beste gegeben, das ich konnte.“ Für die Jury aus mehreren Gründen eine Siegerleistung: Die Arbeit sei „wissenschaftlich-methodisch ganz korrekt“, beurteilte Biologie-Jurorin Patricia Schwarz, die das Fach an Sankt Afra unterrichtet. Hinzu komme die „eloquente, begeisternde Art“, in der Lena Stolle „den biologisch nicht so Versierten das hohe wissenschaftliche Niveau anschaulich erklären könne“.
Die Jungforscherin selbst sieht ihr Projekt als „gute Erfahrung“. Als berufliche Perspektive schließt sie die Naturwissenschaften aus. Ihr Interesse gilt Sprachen.
In Kürze gehen die letzten drei Plattwürmer in ihrem Besitz ans Max-Planck-Institut zurück. Wohlbehalten in Wasser-Gefäßen. Dabei ist Lena Stolle überzeugt: „Da steckt ziemlich großes Potenzial drin, die Voraussetzungen dieser Tiere am Menschen zu nutzen!“