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„Den muss er doch weghauen“

Zittau. „Mann! Den kann er doch nicht einfach abprallen lassen! Den muss er doch weghauen!“ Soeben hatte Deutschlands Torwart Oliver Kahn den Schuss von Rivaldo nicht richtig zu fassen gekriegt und damit Brasiliens Ausnahmestürmer Ronaldo die Vorlage zum 1:0 geliefert.

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Von Mario Sefrin

Zittau. „Mann! Den kann er doch nicht einfach abprallen lassen! Den muss er doch weghauen!“ Soeben hatte Deutschlands Torwart Oliver Kahn den Schuss von Rivaldo nicht richtig zu fassen gekriegt und damit Brasiliens Ausnahmestürmer Ronaldo die Vorlage zum 1:0 geliefert. Entsetzt hatten etwa 300 Leute in der Bürgerbräu-Halle in der Zittauer Weinau das Geschehen auf der Leinwand verfolgt. Dann, als der Ball hinter Kahn im Netz zappelte, Ungläubigkeit und Ratlosigkeit. Und zaghafte Versuche, das eben Gesehene zu analysieren, zu verarbeiten. Erst kein Glück gehabt, und dann kam auch noch Pech dazu. Diese Einschätzung trafen gestern viele in der Zittauer Weinau. Dabei hatte alles so gut begonnen. Auch für Ulrich Hoyer, bei der Zittauer Bürgerbräu GmbH zuständig für die Vertriebsleitung: „Wir haben mit etwa der Hälfte der Leute gerechnet, die letztlich gekommen waren“, sagte Hoyer gestern Nachmittag sichtlich überrascht. Schon am späten Vormittag kamen die ganz harten Fans zur Lagerhalle gepilgert – und wurden mit den besten Plätzen auf den bereitgestellten Bänken belohnt. Wer später kam, der musste stehen oder mit einem leeren Bierkasten vorlieb nehmen, die die Brauerei kurzerhand verteilte. Als das Spiel um 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit begann, war die Stimmung in der Halle euphorisch. Das schien auf die deutsche Mannschaft abzufärben:

Unter immer neuen Jubel- und „Deutschland, Deutschland“-Rufen stürmten Klose, Neuville, Bode und Co. aufs brasilianische Tor, dass die Zuschauer im Bürgerbräu-Geviert ihre Freude hatten. Gleichzeitig floss das Bier ohne Unterlass; sechs geleerte Fässer zu 50 Litern wird Ulrich Hoyer am späten Nachmittag bilanzieren.

Erst das 1:0 für Brasilien versetzte der guten Stimmung einen ersten Dämpfer. Eine Minute überzog erschrockene Betroffenheit die Gesichter der Zuschauer, doch schnell hatten sie sich wieder gefangen und begannen erneut, die deutsche Elf nach vorn zu brüllen. „Nun erst recht“, lautete die Devise. Schließlich waren noch über 20 Minuten zu spielen, und so wie Deutschland auftrat, musste es doch einfach mal klingeln im Kasten der Brasilianer.

Geklingelt hat es dann in der 79. Minute auch. Dummerweise zum zweiten Mal im deutschen Tor. Hatten die Fans in der Bürgerbräu-Halle, unter denen auch ein paar Tschechen waren, nach dem ersten Tor Brasiliens die Zuversicht schnell zurückgewonnen, legte sich nun bleierne Stille über die 300 Köpfe. Keiner schaute mehr zum Nachbarn, niemandem war nach einem Gespräch zumute.

Alle Blicke richteten sich nur nach vorn, dorthin, wo auf der Leinwand wieder und wieder der Torschuss gezeigt wurde und wo mit einem Mal die eigentlich auf jubelnde Fans eingestellte Lautstärke der Übertragung unverhältnismäßig laut von den Hallenwänden zurückbrüllte. Ein anfangs weggewischtes Gefühl wurde langsam Gewissheit: Deutschland würde es nicht mehr schaffen, das Spiel in seinem Sinne zu wenden. Der Schlusspfiff dieses denkwürdigen Finales sollte dann auch für einige nur noch das Zeichen sein, den Tränen freien Lauf zu lassen.

Männer im besten Fußballalter, die eben noch in der Halle mit lauter Stimme „ihre“ Mannschaft voran peitschten und den Ball förmlich ins Tor schreien wollten – sie saßen plötzlich zusammengesunken und Gedanken verloren auf der Bank und fanden vor lauter Tränen ihre Stimme nicht mehr. Sie hatten wie die Spieler in Yokohama eineinhalb Stunden alles gegeben, doch es sollte nicht sein an diesem Tag.

Feiern wollte denn nach dem Spiel auch kaum einer in der Weinau. Die Organisatoren, die sich schon „auf 22 Uhr eingestellt“ hatten, waren darüber aber nicht böse. Schließlich waren sie schon am Vormittag beim Eibauer Bierzug dabei gewesen.