Woran's bei der Medizin-Versorgung krankt

Joachim Herrmann weiß, wie schnell die Stimmung umschlagen kann, wenn bei einem Menschen mit Depression die Medikamente plötzlich fehlen: Das abrupte Ende der Wirkstoffgabe kann durchaus zu lebensbedrohlichen Zuständen führen. Deshalb hat sich der Löbauer nach seinen Erlebnissen rund um das Einlösen eines Rezeptes auch gleich an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und dessen sächsische Amtskollegin gewandt. Denn gegen die Lieferengpässe bei Arzneimitteln muss die Politik dringend etwas unternehmen, fordert Joachim Herrmann.
Das so heiß ersehnte Medikament, dass eine Verwandte von Herrmann verschrieben bekommen hatte, heißt "Venlafaxin Retard 150 mg". "Mit diesen Tabletten war sie nach langer Suche endlich gut eingestellt und stabil", schildert er. Alle Vierteljahre erhält die 68-jährige Löbauerin, für die Herrmann den Fall schildert, von ihrem behandelnden Arzt in der Psychiatrischen Institutsambulanz in Görlitz ein Rezept. Damit kommt sie immer bis zur nächsten Verordnung um die Runden.
Auch im Oktober vergangenen Jahres verschrieb der Arzt Venlafaxin. "Doch diesmal erklärte die Mitarbeiterin in der Löbauer Linden-Apotheke, das Medikament sei nicht lieferbar - auch nicht über ihr bekannte Apotheken - und man müsse sich eben kümmern", erzählt Herrmann. Kümmern, das liegt dem Mann im Blut: lange beim Arbeitslosenkreisverband, als Löbauer Stadt- und Kreisrat engagiert sowie noch immer Kreisseniorenratsvorsitzender - Joachim Herrmann hat sich stets gedreht. Und so recherchierte er im Internet und fand in Ludwigshafen eine Apotheke, die angab, das Medikament vorrätig zu haben.
Hoffnung nach acht Telefonaten
Als er aber von der Linden-Apotheke das Rezept - auf dem noch andere Medikamente gestanden hatten - für den Versand nach Ludwigshafen holen wollte, hatte die Apothekerin auch das Venlafaxin bereits abgestrichen. "Nach acht Telefonaten und einer Fahrt nach Görlitz habe ich es dann geschafft, für Venlafaxin ein neues Rezept zu erhalten, dass ich nach Ludwigshafen schicken konnte. Drei Tage später kam eine Mail - auch dort sei das Medikament leider nicht mehr vorrätig.
In der Not probierte Joachim Herrmann es dann doch noch mal vor Ort: Er fragte in einer anderen Löbauer Apotheke nach - und dort gab es doch noch zwei Packungen des begehrten Medikaments. Aber das Rezept war ja nun noch in Ludwigshafen: "Nach mehreren Telefonaten zwischen Görlitz, der Apotheke und einer Mail nach Ludwigshafen hat man eine Variante gefunden, schnell zu helfen", sagt Herrmann - und fügt an: "Einen solchen Weg kann man älteren und vor allem kranken Menschen nicht zumuten, zumal dies kein Einzelfall ist."
Auch Impfstoffe sind knapp
In der Tat ist das kein Einzelfall: Der Engpass beim Grippeschutz-Impfstoff 2018 ist ein Beispiel dafür. Aber auch bei Antibiotika, Blutdrucksenkern, Psychopharmaka und Schmerzmitteln kommt es immer wieder zu Lieferschwierigkeiten. "Diese Produktgruppen sind nach unseren Erkenntnissen überdurchschnittlich betroffen", bestätigt das Sächsische Sozialministerium. Welche Medikamente genau betroffen sind, werden von den Bundesoberbehörden erfasst. Der Inhalt dieser Listen ändert sich praktisch werktäglich, heißt es. Immerhin: Die Corona-Krise hat auf diese Problematik bislang keine verschärfende Wirkung gehabt, bestätigen sowohl Bund als auch Freistaat auf Nachfrage.
Für Joachim Herrmann ist die Corona-Krise aber dennoch ein wichtiges Argument, etwas gegen die Problematik zu tun: "Wir sehen im Moment beim Thema Schutzmasken und -kleidung, wie abhängig wir vom Ausland sind", skizziert Herrmann. Tatsächlich bestätigt auch das Sächsische Sozialministerium als Ursachen für Medikamentenknappheit vor allem die Produktionsverlagerung ins außereuropäische Ausland, Produktionseinstellungen, die Ausgestaltung der von den Krankenkassen geschlossenen Rabattverträge sowie der Umstand, dass es für zahlreiche Wirkstoffe und Arzneimittel weltweit nur noch wenige Hersteller gibt. "Mit Ausnahme der Rolle der Rabattverträge sind die vermuteten Ursachen unstrittig", teilte das Sozialministerium mit.
Jahrzehntelangen Fehler beheben
Bund und Land tun aber inzwischen etwas dagegen. Sachsen versucht, als Standort für Pharmaunternehmen attraktiver zu werden und Arbeitskräfte anzulocken. Auch der Bund reagiert - beispielsweise mit dem im April in Kraft getretenen "Gesetz für einen Fairen Kassenwettbewerb". Neben einer neuen Meldepflicht zu solchen Arzneimitteln durch Hersteller und Großhändler, der Möglichkeit, eine Lagerhaltung anzuordnen und einer steten Bewertung der Lage durch einen Beirat, ist auch ein Passus enthalten, der die Rabattverträge der Krankenkassen im Fall des Falles außer Kraft setzt. Und auf EU-Ebene will Deutschland das Thema in der anstehenden Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2020 aufs Tableau bringen.
Joachim Herrmann erkennt die Bemühungen durchaus an: "Das, was die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten an Produktion ausgelagert hat, kann man nicht von jetzt auf gleich zurückholen, das braucht Zeit." Die Geschichte des Venlafaxin-Rezeptes sollte aber Ansporn sein, am Ball zu bleiben, findet er: "Gerade ältere und kranke Menschen sind in solchen Situationen hilflos", sagt er.