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Der aussichtslose Kampf

Das Verschwinden der Persönlichkeit ist schwer zu verkraften. Man steht dem so ohnmächtig gegenüber.

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Von Jörg Marschner

Es geht auf zehn Uhr am Vormittag zu. Christine Holfert läuft in die Küche, nimmt den tiefen Teller mit der Apfel-Möhren-Rohkost, die sie nach dem Frühstück geraspelt hat. „Eine Zwischenmahlzeit ist immer gut“, sagt die 66-Jährige mit dem schon ziemlich ergrauten Haar. Mit dem Teller geht sie ins Schlafzimmer zu ihrem Mann. Helmut Holfert liegt angezogen im Bett, richtet sich auf und will den Teller nehmen. „Nein, nein, das gibt’s nicht im Bett, komm mit in die Küche“, sagt sie sanft. Und er kommt mit, ein stattlicher kräftiger Mann mit schütterem Haar, Jogginghose, mehrfarbiger Pullover, jünger aussehend als 74. Er geht vorbei an der Küche zum Wohnzimmer, sieht den Besuch, den fremden Mann mit dem Schreibblock. Der reicht ihm die Hand, sagt „Guten Tag“. Helmut Holfert nimmt die Hand und drückt sie, sagt „alles klar?“. Keine Frage, wer der Fremde ist, was er will. Er schaut ihn nur an mit seinen blauen Augen, ein paar Sekunden lang, als ob er doch noch was sagen wollte. Dann dreht sich Helmut Holfert um, geht in die Küche, isst seine Rohkost und legt sich wieder ins Bett, ohne ein Wort zu sagen.

Klar, der Mann ist krank. Aber schwer krank, unheilbar krank? Dass dieser Mann, der noch so gut aussieht, an Alzheimer leidet, würde niemand denken, der ihn unterwegs trifft. Seine Frau kennt diese Diagnose und lebt mit ihr seit fast drei Jahren.

Gestern aber war ein Tag, der alles verändert, vieles für sie leichter macht und trotzdem schwer auf ihr lastet.

Zu Jahresbeginn 2009 musste Christine Holfert ins Krankenhaus zur Behandlung eines schmerzhaften Gallenleidens. Kurz bevor sie entlassen werden sollte, rief ihr Mann an: „Mir geht’s nicht gut, bin gefallen, komm heim.“ Er sah schlimm aus, grün und blau im Gesicht, der Fußboden war voll Blut. „Und er redete so verwirrt von der Arbeit, er müsse hin, was er da jetzt alles machen müsse, obwohl er doch gar nicht mehr arbeiten ging“, erinnert sich Christine Holfert. Der Notarzt veranlasste eine sofortige Krankenhauseinweisung. Immer wieder versuchte Holfert auszureißen aus der Fachklinik im Dresdner Norden, bis er in eine Abteilung kam, wo das nicht mehr möglich war.

Die Diagnose Alzheimer kam für Christine Holfert total überraschend und schockierend. Wie kann das sein? Wieso hast du das nicht bemerkt?, fragte sie sich, kramte in ihren Erinnerungen und fand durchaus Seltsames. Schon vor einem Jahr hatte Helmut immer wieder völlig zusammenhanglos zu ihr gesagt: „Komm, wir fahren zum Wilden Mann“ und es dann aber gleich wieder vergessen. Christine erklärte sich das damit, dass er früher in diesem Dresdner Viertel mal gebaut hatte. Große Gedanken machte sie sich auch nicht, als er im Winter im Hof stürzte und danach keine Erinnerung mehr hatte, wie es dazu gekommen war. „Wenn so was vorkam, dachte ich oft, er hätte was getrunken und sagte es ihm. Er antwortete dann immer ganz ernst: ,Ich hab doch nichts getrunken‘. So war das, nie hätte ich an Alzheimer gedacht“, sagt Christine Holfert. Sieben Wochen lag ihr Mann in der Fachklinik. Und mit jedem Tag wurde die Frage, wie es nun weitergehen soll, größer.

Die meisten, mit denen sie sprach, auch im Krankenhaus, gaben ihr den Rat, für ihren Mann einen Heimplatz zu suchen. Als sei das so einfach bei dementen Patienten. Eine Schwester aus der Klinik erzählte Frau Holfert, dass es ihrem Vater ähnlich gehe wie ihrem Mann und bat sie: „Überlegen Sie sich’s noch mal. Zu Hause bei Ihnen hat er es bestimmt besser.“ Weil auch die Medikamente eine gewisse gute Wirkung zeigten, holte Christine Holfert ihren Mann heim. Das war im Frühling vor drei Jahren.

Es gab Momente, da war Christine Holfert voller Freude. Beispielsweise, weil er immer raus wollte in den Kleingarten in Wölfnitz, wofür sie die Straßenbahn nehmen mussten. „Da war ich glücklich, dass er was unternahm“, sagt seine Frau. Sie nahm es hin, dass er dann nur dasaß im Garten, nichts machte, nicht mal die Gießkanne nahm und schon nach kurzer Zeit – meist war kaum eine Stunde vergangen – sagte: „Wir gehen jetzt“. Natürlich ging sie mit. Schnell hatte sie die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, dagegen anzureden, gar laut zu werden. Das weckt nur Aggression. Alles muss leise, sanft vor sich gehen. Sanft, in kleinen, oft kaum merkbaren Schritten ging es auch bergab. Ihr Mann wurde träger, verlor an Aktivität und an Erinnerung. Bald war es so weit, dass er Andreas, den Sohn von Christine, nicht mehr erkannte. „Wer war denn der Mann?“, fragte er, wenn Andreas wieder gegangen war. Und wenn sie sagte, „das war doch mein Sohn“, fragte er zurück: „Was wollte der Mann denn hier?“

Bis in den Sommer vorigen Jahres gab es noch manchmal richtige Gemeinsamkeiten. Etwa, wenn das Paar zusammen rausging, mit der 3 bis zur Endstation und zurück fuhr, als ob alles ganz normal wäre. Sie spielten auch noch „Mensch, ärgere dich nicht“, wobei Christine Holfert ihren Mann immer gewinnen ließ. Oder auch Domino, holprig zwar, aber immerhin. Es war noch nicht alles weg, aber alles schon völlig anders, auch juristisch. Vor einiger Zeit hat Christine Holfert wieder mal das Dominospiel rausgenommen. Er saß davor, sie drückte ihm den Würfel in die Hand. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte.

Eine Zeit lang ging Helmut Holfert häufig ans Fenster, öffnete es, schaute raus, und wenn unten jemand vorbeiging, brüllte er: „He, du, komm mal hoch!“ Dann gab es eine Phase, da saß er stundenlang vorm Fernseher, zappte sich durch die Programme, landete immer wieder mal vor der schwarzen Scheibe, weil er falsch gedrückt hatte. Da war es aus für ihn, und er konnte nur rufen: „Komm mal her, Christine, der Fernseher ist kaputt.“ Jetzt redet er sie schon lange nicht mehr mit dem Namen an, sagt „Mutti“ zu ihr. Und wenn sie sagt: „Aber Helmut, ich bin doch die Christine, deine Frau“, antwortet er stets mit: „Ja, Mutti“.

„Dieses Verschwinden der Persönlichkeit, der Identität ist schwer zu verkraften. Man steht dem so ohnmächtig gegenüber“, sagt Christine Holfert. Manchmal hat sie sich schon gefragt, womit sie das verdient hat. Auch ihren ersten Mann hat sie bei einem langen Leiden begleitet; er war schwer erkrankt an Krebs und starb 1987. Während seines Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR war er anderthalb Jahre an einer Radarstation eingesetzt und wurde auch später als Reservist alle zwei Jahre dorthin geschickt. Christine Holfert denkt, dass die Strahlen den Krebs verursachten. Nie hätte sie gedacht, dass sie mit ihrem zweiten Mann erneut solches Leid erleben muss.

Rückblickend sagt Christine Holfert: „Es war ein Glück, dass wir eine gegenseitige Vorsorgevollmacht hatten, das hat auf den Ämtern vieles erleichtert.“ Ihre Vorsorgevollmacht hat sie sofort auf den Sohn überschrieben. „Man weiß ja nie, was einem noch bevorsteht.“

Über Demenz weiß Christine Holfert inzwischen gut Bescheid dank Internet und mancher Fernsehbeiträge. Natürlich hat sie auch die Filme und Talkrunden über die Erkrankung des einstigen Fußball-Managers Rudi Assauer gesehen. Klar geworden ist ihr, dass die ersten Anzeichen bei ihrem Mann schon vor 2009 aufgetreten sind, ohne sie damals wahrzunehmen. Das ist einfach so, hat sie gedacht. Wer wird mit dem Alter nicht vergesslicher? „Der Assauer war ja auch noch ziemlich fit in dem Film“, sagt sie, „wenn die wüssten, was noch auf sie zukommt.“

Vor allem die Nächte können zum Albtraum werden. Kaum eine Nacht vergeht, dass Helmut Holfert nicht unterwegs ist, manchmal sogar mehrmals. Oft durch alle Zimmer, aber immer in der Küche, überall macht er Licht an, aber nie aus. „Er sucht Eis, überall, öffnet Schieber, Schränke, obwohl er jeden Tag seine Portion bekommt“, sagt seine Frau. Einmal, als sie ausnahmsweise nicht wach geworden war, hat er den ganzen Tiefkühlschrank ausgeräumt, das meiste musste sie danach wegschmeißen. Es ist auch schon passiert, dass Helmut ein Eis ins Bett schmuggelte und es dort versteckte. Über die Probleme mit der Hygiene will Christine Holfert gar nicht erst reden. „Das lässt sich alles hinbiegen, ist eben nur mehr Arbeit, mehr Wäsche“, sagt sie. Die nächtliche Ruhe aber lässt sich nicht nachholen, auch nicht an den drei Tagen in der Woche, die ihr Mann in der Cultus-Tagespflege verbringt. Sitzen beide nebeneinander, könnte man denken, er mit seinem eher frischen Teint ist gesund und sie mit ihrer Blässe krank. Die unruhigen Nächte hinterlassen Spuren.

Schon seit einem Jahr reden Verwandte und Bekannte Christine Holfert zu, ihren Mann doch ins Heim zu geben. „Würdest du’s denn machen an meiner Stelle?“, hat sie dann immer gefragt und alles abgeblockt. Aber natürlich spürte auch sie, dass sie in einem Kampf steht, in dem es keinen Sieg geben kann. Manchmal steht sie vor Situationen, wo sie allein nicht weiterkommt. Beispielsweise beim Baden. Weil sich Helmut wenig bewegt, hat er stark zugenommen. Ohne Lift kommt er nicht rein in die Wanne und nicht raus. Vor einiger Zeit passierte es, dass das Gerät nicht vorwärts und nicht rückwärts ging. Ihr Mann wollte raus und wurde laut, weil sie es nicht schaffte, seinen 115 Kilo rauszuhelfen. „Bin durchs Haus. Hab überall geklingelt, bis endlich eine junge Frau da war, und zusammen haben wir’s dann geschafft.“ Im Haus wissen alle von der Krankheit. Sie seien nett und hilfsbereit, aber oft stünde man eben doch ganz allein da. „Irgendwann ist die Kraft einfach zu Ende“, sagt Christine Holfert und hat sich schließlich schweren Herzens doch fürs Heim entschieden.

Dieser Tage wurde Helmut Holfert 74. „Du hast bald Geburtstag, hab ich ihm oft gesagt, und er murmelte nur ,ja, ja‘, mehr nicht.“ Christine Holfert wollte den Geburtstag unbedingt mit ihm zu Hause erleben, „feiern kann man da ja nicht sagen“. Gestern nun ist Helmut Holfert umgezogen ins Cultus-Heim. „Es ist bestimmt besser für ihn und auch für mich“, sagt seine Frau, und es klingt, als ob sie sich selbst trösten will. Irgendwie kommt sie sich schlecht vor. „Wir haben doch 18 Jahre zusammengelebt. Und nun das… Es ist wie ein Abschieben, obwohl mir keiner diesen Vorwurf macht.“