Von Ingo Kramer
Zwölf betagte Augenpaare sind zum Anpfiff gespannt auf die Leinwand gerichtet. Vor allem die männlichen Bewohner aus allen drei Etagen des Alten- und Pflegeheimes Luisenstift an der Biesnitzer Straße wollen sich das Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen Portugal nicht entgehen lassen. Mitten unter ihnen im Saal sitzt eine kleine Frau mit wachem Geist in ihrem Rollstuhl. Auf dem Tisch hat sie eine Flasche Malzbier stehen, doch ihre Augen sind auf die Fußballer auf der Leinwand gerichtet. Man sieht Helene Stark nicht an, dass sie die drittälteste Görlitzerin ist. Vorige Woche hat sie ihren 104. Geburtstag gefeiert.
„Am Wochenende waren wir zur Vesper und zum Abendbrot im Hotel Marschall Duroc, das war wunderbar“, freut sich die aus dem schlesischen Langenöls im damaligen Kreis Lauban stammende Frau, die einst Weberin gelernt hat. Genau wie die regelmäßigen Fußballabende sind Geburtstage eine willkommene Abwechslung für die Frau, die geistig noch sehr rege, aber körperlich leider sehr eingeschränkt ist.
Dass sie nicht mehr laufen und dadurch auch nicht mehr viel machen kann, raubt ihr oft den Lebensmut. Auch, dass sie ihren Ehemann Paul ein halbes Jahr vor der Goldenen Hochzeit verloren hat, nimmt sie bis heute mit. Sein Todesdatum hat sie bis heute gespeichert: den 3. Oktober 1983. Dann aber gibt es die schönen Momente, vor allem mit ihrer Familie, die sich liebevoll um Helene Stark kümmert. Ihre einzige Tochter ist Mitte 70 und lebt in Weinhübel, die Enkeltochter und die drei Urenkelinnen sind längst erwachsen. „Meine Nachkommen waren immer alles Mädels“, sagt sie. Nun freut sie sich, dass sich das in der nächsten Generation geändert hat: „Ich habe zwei kleine Ururenkel-Jungs.“ Die beiden sind ihr ganzer Stolz und geben ihr ein Stück Lebensfreude, wenn sie traurig ist.
Der Fußball schafft das nur manchmal. Das WM-Spiel, für das die beiden Altenpfleger Mario Gruber und Jens Belaidi nach ihrem Feierabend den Saal hergerichtet und die Bewohner aus ihren Zimmern abgeholt haben, schaut sich Helene Stark nicht bis zu Ende an. Es stört sie, dass ihre Sitznachbarin ein Malzbier nach dem anderen trinkt und so kippt ihre Stimmung. Beim nächsten Spiel aber kommt sie vielleicht wieder mit in den Saal. Und wenn die WM irgendwann vorbei ist, beginnt keine fußballfreie Zeit: Auch zu Champions-League-Spielen holen Mario Gruber und Jens Belaidi die alten Leute ab und an in den Saal.