Der Adlige, der mich belog

Ach, den Kerl gab es wirklich? So werden Angehörige der Familie Münchhausen gefragt, wenn sie sich mit ihrem Namen vorstellen. Mitunter werden sie argwöhnisch angeguckt. Man weiß ja nicht, ob ihnen zu trauen ist. Der Lügenbaron hängt ihnen an. Dabei ist alles ein Missverständnis. Fake News hoch drei. Die Legenden um diesen Mann klingen mindestens so verrückt wie die Geschichten, die in seinem Namen erzählt werden. Wer war das, der bei Tabak und Punsch in geselliger Herrenrunde plauderte über seine Abenteuer in Russland? Und abenteuerlich muss man es nennen, wenn einer sein Pferd an einen Pfahl bindet, sich daneben erschöpft in den Schnee legt und morgens bei Tauwetter feststellt, dass das Pferd am Kreuz eines Kirchturms baumelt. Ratzfatz das Halfter durchschossen und weitergeritten. So war das, meine Herren.
Wer war der Erfinder des Storytellings? Ein Bild zeigt Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen in frisch gebügelter Uniform mit Dreispitz und ledernem Brustpanzer, dem Kürass. Die Anfänge liegen in einem Gutshof im niedersächsischen Bodenwerder. Dort wird er am 11. Mai 1720 als fünftes von acht Kindern geboren. Der Vater Georg stirbt früh. Die Mutter Sibylle schickt den Sohn mit 13 Jahren als Pagen an den Hof von Braunschweig/Wolfenbüttel. Pagen standen hilfreich hinterm Stuhl ihres Herrn, das war die zeitgemäße Art von Gymnasium. Der Junge wird weitergereicht an den Herzog-Bruder Anton Ulrich, der in Sankt Petersburg Thronfolger werden will. Zunächst kämpft dieser für die Zarin um den Zugang zum Schwarzen Meer. Irgendein Türkenkrieg findet immer statt. Ob Münchhausen auch am Russisch-Schwedischen Krieg teilnimmt, ist nicht gewiss. Militärs halten sich gern informell zurück. Jedenfalls macht er Karriere in der Kaiserlich-Russischen Kavallerie. Die Einheit ist stationiert in Riga, und mit knapp 24 heiratet Münchhausen Jakobine von Dunten, Tochter eines livländischen Landrichters. Zwischendurch kommt ihm sein Dienstherr abhanden, weil die Russen keinen Deutschen auf ihrem Thron wünschen und Anton Ulrich nach Sibirien verbannen.
Ist es ein Wunder, dass einer am Stammtisch in der Provinz bestaunt wird, der so weit herumgekommen ist wie kein anderer in der Runde? Spornt ihn der Beifall an, die Geschichten ein wenig auszuschmücken? Will er Prahlereien der Honoratioren toppen?

Man möchte nicht in der Haut dessen stecken, der im Schlitten durch das verschneite Russland fährt, als in einem fürchterlichen Wald ein entsetzlicher Wolf „mit aller Schnelligkeit des gefräßigsten Winterhungers“ hinter ihm zum Sprung ansetzt. Wolf springt über Schlitten, frisst sich in Pferd, steckt im Geschirr fest. „Und wir langten in vollem Galopp gesund und wohlbehalten in St. Petersburg an.“ So war das, meine Herren.
Nach zwölf Auslandsjahren kehrt Hieronymus von Münchhausen samt Jakobine auf den heimischen Gutshof zurück. Montags geht er zur Jagd. Dienstags geht er zur Jagd. Mittwochs geht er zur Jagd. Landadliger scheint ein spannender Job zu sein. Die Ehe bleibt kinderlos. Münchhausen streitet sich mit Nachbarn um Wegerechte, Zölle und Grenzpfähle, denn Bodenwerder ist als Exklave Teil des Kurfürstentums Hannover, während das Umland zum Herzogtum Braunschweig gehört. Wehe, wenn eine Kuh die Wiese wechselt. Manchmal hat der Herr des Hauses die Faxen satt und reitet nach Göttingen in die Schenke. Er kannte mal einen russischen General, der mehr als jeder andere saufen konnte. Von Zeit zu Zeit lüpfte der Russe den Hut mitsamt der silbernen Platte, die seit einem Gemetzel den oberen Teil seines Schädels ersetzte. Dann entwich der Alkohol. Mit einem Papier heimlich in Brand gesetzt, entwickelte sich daraus eine prächtige Feuersäule wie überm Haupt eines Heiligen. So war das, meine Herren.
Münchhausen mag eine Plaudertasche sein, wenn der Tag lang ist. Doch er schreibt keine einzige Zeile. Er beschäftigt keinen Eckermann. Er spricht seine Storys nicht auf Band. Dennoch: Die Geschichten, die in seinem Namen in der Ichform erzählt werden, verbreiten sich weltweit in mehr als 50 Übersetzungen. Der Mann will Aufmerksamkeit als Selbstdarsteller. Aber er streut nicht gezielt Gerüchte, um Politik zu machen. Mancher sagt ihm sogar aufklärerische Absichten nach: „Gewisse Schreier im Parlament“ könnten durch ihn bekehrt werden.

Karikaturisten zeigen lügende Politiker immer wieder gern reitend auf einer Kanonenkugel. Helmut Kohl, Oskar Lafontaine, Bundesminister zu Guttenberg – es kommt keiner davon. Das Ding mit der Kugel ist die populärste aller Münchhausengeschichten, spätestens seit dem Flug des schönen blauäugigen Hans Albers im Prestigefilm der Nazis nach dem Drehbuch von Erich Kästner. Allerdings bezeugt diese Episode nicht die Lüge. Sie bezeugt das Scheitern. Denn als der Spion Münchhausen unterwegs ist zur feindlichen türkischen Festung, fällt ihm voller Entsetzen ein, dass er dort nicht willkommen sein könnte und der Rückweg womöglich fraglich. Fix steigt er auf eine gegnerische Kugel um und kehrt zurück, unverrichteter Dinge.
Wer verwandelte den Gutsbesitzer Hieronymus in eine literarische Kunstfigur? Der Erste ist ein gewisser Rochus Graf zu Lynar, Diplomat im Dienst der dänischen Krone. Er veröffentlicht 1761 das Buch „Der Sonderling“ mit drei Geschichten, in denen Leser Münchhausen erkennen. Der Zweite ist ein anonymer Autor. Er bringt 1781 eine Art Groschenheft heraus, das „Vademecum für lustige Leute“. Die 16 Anekdoten werden einem Herrn „M-h-s-n“ in den Mund gelegt. Der Dritte ist die schillerndste Figur: Rudolf Erich Raspe, Bibliothekar, Geologe, Gelehrter, stiehlt aus dem Münzkabinett seines hessischen Dienstherrn einige Goldstücke, flieht damit nach London, stößt zufällig auf das „Vademecum“, übersetzt es ins Englische – und landet 1785 einen Verkaufserfolg mit „Baron Munchhausens Narrative of His Travels and Campaigns in Russia“. Raspe verbindet Fakten aus dem Leben des echten Münchhausen mit Fiktionen, plündert antike Autoren, Märchen und Reiseberichte und erfindet immer neue hanebüchene Erlebnisse mit Seefahrten, Walfischen, Löwen und Krokodilen. Durch übergroße Tierliebe fällt der Icherzähler nie auf. Drückt einem Bären so lange die Pfoten, bis der verhungert. Rammt einem Wolf die Faust ins Maul und stülpt das Innere nach außen. Fädelt Enten auf eine Lederschnur mithilfe von Schinkenspeck. Politisch korrekt ist das alles nicht.
Trotzdem entwickelt sich das Jägerlatein zum Weltbestseller. Der Dichter Gottfried August Bürger hat daran den größten Anteil. Angeblich entdeckt er das Raspe-Buch in Göttingen bei seinem Untermieter, einem englischen Studenten. Er übersetzt es 1786 ins Deutsche. Denkt sich weitere Geschichten aus. Zum Beispiel die vom Ritt auf der Kanonenkugel. Spitzt andere zu mit Spott auf Adel, Kirche und Monarchie. Im Mittelpunkt steht immer der männliche Alleskönner. Furchtlos und wetterfest. Ein paar tote Matrosen mehr oder weniger kümmern ihn nicht, und fremde Völker nennt er schon mal Barbaren. Wer Münchhausen kinderzimmerkompatibel will, hat es schwer. Für den Actionhelden gelten weder Naturgesetze noch die Wahrscheinlichkeitsregeln vom „Tatort“. Er überwindet jede Gefahr, jeden Feind, jedes Hindernis. Immer kommt er glücklich davon, weil er den Zufall, „das Ohngefähr“, zu seinem Vorteil lenkt „durch Tapferkeit und Gegenwart des Geistes“.

Die Herren James Bond können einpacken. Oder haben sie sich je am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen und das Pferd zwischen den Schenkeln gleich mit? Haben sie je einen Bohnenkern gesteckt, sind an der Ranke zum Mond geklettert und knüpften auf dem Rückweg immer ein oberes Rankenstück ans untere, damit es reicht? Wie harmlos sind solche Lügenmärchen im Vergleich zu „alternativen Fakten“.
Der literarische Baron macht sich die Freude, seine Geschichten selbst auszudenken, das überlässt er keinem Computerprogramm. Er gibt sich zu erkennen und braucht weder Filterblase noch Echoraum zur Bestätigung. Und er fühlt sich gekränkt, wenn einer der Lüge überführt wird und er gleich mit verdächtigt wird „in unserem zweifelsüchtigen Zeitalter“. So alt ist das. Toll sah der Kutscher des Königs aus, in dessen Bart das englische Wappen sehr sauber geschnitten war, nicht wahr, meine Herren.
Kann es sein, dass sich die gedruckten Flunkereien bis auf die Weserinsel von Bodenwerder verbreiten? Hieronymus von Münchhausen sieht seinen Ruf ruiniert. Überstürzt flieht er 1794 nach dem Tod seiner Frau und drei Jahre vor seinem eigenen Tod in die Ehe mit einem jungen Mädchen. Weil er sich von ihr hintergangen fühlt wie von allen, will er sich schnell wieder scheiden lassen. Er klagt sie an. Sie gibt ihm die Schuld. Ihre Anwälte führen ihn vor als einen, dem bekanntlich nicht zu glauben ist. Sie nennen ihn: Lügenbaron.
Buch-Tipps:
- Anna von Münchhausen: Der Lügenbaron. Mein phantastischer Vorfahr und ich. Kindler Verlag, 128 Seiten, 15 Euro
- Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Illustriert von Thomas B. Müller, Faber & Faber, 160 Seiten, 36 Euro