Von Jörg Stock
Kommt er durch oder kommt er nicht durch? Das ist hier die Frage. Käme er durch, wäre das so etwas wie ein historischer Moment. „Wenn du richtig besetzt, dann kommst du durch“, sagt der Verwalter aus der Kleiderkammer und grinst. Der Angesprochene sitzt und raucht. Es ist Ralf Mehringer, der Sprenghauer. Besetzen, das heißt Sprengstoff laden. „Es geht nicht mehr rein, als rein geht“, sagt Hauer Mehringer. Er weiß, er wird durchkommen. Wenn nicht heute, dann eben morgen.



Ums Durchkommen drehte sich gestern früh alles bei den Bergleuten im Freitaler Wismut-Stolln. Der Vortrieb Richtung Gittersee ist geschafft. Nur ein winziges Stück fehlt: der Durchbruch zum Wetterbohrloch am alten Schacht 3. Dieser Durchbruch markiert praktisch das Ende der Auffahrung, das Ende eines Mammutprojekts, das seit 2005 vorbereitet und seit 2007 ausgeführt wurde und das rund 22 Millionen Euro kosten wird.
Der Wismut-Stolln soll das Grubenwasser aus dem verlassenen Revier Gittersee in den Tiefen Elbstolln und damit in die Elbe abführen. Schätzungsweise 1500 Mal wurde beim Stollenbau gesprengt. Vielleicht ist das heute die letzte Sprengung. Wahrscheinlich aber doch nicht, sagt Steiger Ronald Krajak. Probebohrungen vor Pfingsten haben ergeben, dass noch zwei Meter achtzig Gestein zwischen dem Stollen und der Wetterröhre stehen. Die wird der Sprengstoff nicht auf einmal wegputzen können.
Die Munition liegt in einem Bunker tief im Potschappler Osterberg. Jens Rauer, der Verwalter des Lagers, schafft die Ladungen fürs heutige Ereignis heran. An einer massiven Kette holt er den Schlüssel aus seiner Tasche, der die Schiebetür am Bunkereingang öffnet. Hä, nur eine Schiebetür? Nein. Dahinter kommt eine stabile Gitterpforte und hinter der Gitterpforte eine Panzertür.
Die enorme Klappe, fast so dick, wie ein Unterarm lang ist, gibt den Weg in einen Gang mit knallroten Kisten frei. Rauer öffnet eine und wuchtet dreieinhalb Pakete Roburit, gut 80 Kilo, heraus. Es ist Spezialsprengstoff für den Kohlebergbau. Der Wismut-Stolln ist auf Steinkohle gestoßen. Methangas und Kohlenstaub könnten beim Sprengen freigesetzt und entzündet werden. Weil Roburit beim Explodieren wenig Wärme erzeugt, wird diese Gefahr gemindert, allerdings auf Kosten der Sprengkraft.
Draußen packt Jens Rauer die Sprengstoffkisten auf den Anhänger seines kleinen Treckers und tuckert nach unter Tage. Ich fahre mit dem Steiger ein, natürlich zu Fuß, die lange Rampe hinab in die tropfnasse Schummrigkeit des Berges. Kühle siebzehn Grad sind es hier unten, ein Arbeitsplatz von Vorteil an diesem heißen Tag, der die Wismut-Werkhalle über Tage auf vierzig Grad und mehr aufheizen wird.
Einen knappen Kilometer müssen wir marschieren, über Schotter und Schienen und durch schlammige Pfützen tappen. Der Atem nebelt im Schein des Geleuchts und verliert sich im Luftstrom, der beständig vorbeistreift. Die frischen Wetter sind mit uns. Dafür sorgt ein System aus Röhren und Ventilatoren. Ist der Anschluss an das Wetterbohrloch hergestellt, soll der Luftaustausch fast von allein funktionieren.
Vor Ort. Der Stollen ist zu Ende. Alles Tun der Bergleute richtet sich auf die linke Stollenwand. Sie ist gelocht wie ein Schweizer Käse. Und vor dieser Käsescheibe aus Ton, Brandschiefer und glitzernder Steinkohle steht nun, auf einer Leiter balancierend, Ralf Mehringer, der Sprenghauer, und schiebt mit einer langen Stange Sachen in die Öffnungen hinein.
Die Nachtschicht hat 45 Löcher in den Fels getrieben, die bis zu zwei Meter tief sind und die nun mit Sprengstoff geladen werden. Ich sehe die Roburit-Kisten wieder und diesmal auch den Inhalt. Die Sprengstoffrollen sind braun-grün geringelt und etwa so dick wie eine Knackwurst. Dreizehn Patronen stecken hintereinander in einem Folieschlauch. Die ganze Ladung sieht aus wie ein drolliges Schlangentier. In den Schlangenkopf, in die Schlagpatrone, kommt der Zünder rein. Geht diese Schlagpatrone hoch, springt die Explosion auf die anderen Sprengstoffrollen über.
Mit dem Zünder voran steckt Sprenghauer Mehringer seine Ringelschlangen in die Löcher, schiebt dann mit seinem Ladestock kräftig nach, so wie ein Kanonier, der sein Geschütz lädt. Die Patronen müssen ganz dicht aneinander sitzen. Kein Steinchen, kein Schmutz darf dazwischen geraten, sonst könnte die Explosionskette reißen. Auf den Sprengstoff kommt eine Plastewulst voll Wasser. Der Wassernebel würde eventuell aufwallende explosive Gase niederschlagen. Vorne drauf drückt Ralf Mehringer die Verschlusskappe, den Sperrschirm, den man hier wegen seiner konischen Form auch den „Federball“ nennt.
Der Troll haut auf die Pauke
Seitenschneider knapsen, die Zünderdrähte werden verdrillt, der grüne immer mit dem gelben. Alles wird in Millisekunden ablaufen. Zuerst werden die Ladungen in der Mitte explodieren und Platz schaffen und dann werden die äußeren Ladungen folgen. Unterscheiden können wird man die einzelnen Explosionen nicht. Es wird einen einzigen großen Knall geben.
Kurz vor neun Uhr ist alles bereit. Wir ziehen uns zurück, den ganzen Weg bis rauf auf die Rampe, wo in einem roten Kästchen der Anschluss des Sprengkabels liegt. Ein Anruf beim Wismut-Dispatcher in Königstein: „Wir schießen jetzt!“ Ralf Mehringer kurbelt emsig an seiner Zündmaschine, drückt einen Knopf, da rollt es und grollt es tief in den Eingeweiden des Bergs, so als hätte ein böser Troll auf eine gigantische Pauke gehauen. Die Druckwelle rast in die Ohren, dass man schlucken muss. Dann ist alles still. Kein Messfühler schlägt Alarm, alle Gaswerte sind im grünen Bereich. „Das war’s“, sagt der Steiger. Aber eben nicht ganz. Die Begutachtung ergibt: Wir sind nicht durch. Ein knapper Meter Arbeit ist geblieben für den Sprenghauer und seine explosiven Ringelschlangen.