Von Anna Hoben
Die Geschichte vom Elefanten im Porzellanladen geht in diesem Fall so: Ein Japaner in Paris läuft mit seinem klobigen Rucksack an einer Blumenvase vorbei, er dreht sich ungeschickt – und kann gerade noch gestoppt werden, bevor er gegen die Blumen stößt. Es wäre ein teures Missgeschick gewesen. Denn in diesem Fall sind die Blumen wertvoller als die Meissen-Vase.

Die Blumen sind aus Porzellan, Vladimir Kanevsky hat sie gemacht. Jetzt sind neun Stücke des ukrainisch-amerikanischen Künstlers in der Manufaktur Meissen ausgestellt. Entstanden sind sie im vergangenen Jahr für den Meissen Art Campus. Bei der Eröffnung gestern erzählte man sich die Anekdote vom Japaner in Paris.
Chrysantheme, Maiglöckchen, Hyazinthe: Kanevskys Blumen sind bis ins Detail ausgearbeitet und sehen täuschend echt aus. So echt, dass manche meinen, sie würden duften. Viele, die die Stücke zum ersten Mal sehen, denken zunächst, sie müssten die Meissner Porzellanvasen bestaunen. Man muss sie darauf aufmerksam machen, dass die Blumen das Spektakel sind. Zum Beispiel der Flieder, der aus Tausenden von handgemachten Blüten besteht. Wie viele genau? Kanevskys Frau und Managerin Edita gibt das Stichwort: 3 000.
Die Blumen sind perfekt, auch, weil sie eben nicht ganz perfekt sind. Manche der grünen Blätter – sie bestehen als einziger Teil nicht aus Porzellan, sondern aus Kupfer – haben braune Stellen oder sehen aus wie von Läusen angefressen. Das unterscheidet sie von den Porzellanblumen aus dem 18. Jahrhundert, auf deren Tradition Kanevsky aufbaut. Sie sind realistischer – und wirken dadurch fast schon surreal.
„Blütenträume aus Porzellan“, so nennt die Manufaktur Meissen die Ausstellung. Für Vladimir Kanevsky sind die falschen Blüten auch die Erfüllung seines Amerikanischen Traums. Mit 100 Dollar in der Tasche kam der studierte Architekt 1989 in die USA. Malen und Bildhauerei waren bis dahin nur Hobbys gewesen. Dann las er die Job-Anzeige eines Keramikgeschäfts und fing an, Geschirr herzustellen. „Ich brauchte Geld, die Miete musste bezahlt werden.“ Doch zu Hause begann er zu experimentieren – und machte aus dem Handwerk eine Kunst. Er kreierte Nelken und Maiglöckchen, bald kam der Erfolg. Die Präsidenten-Witwe Jackie Onassis und Designer wie Valentino und Tommy Hilfiger kauften seine Stücke.
„Blumen haben eine logische Struktur“, sagt Kanevsky. „Sie sind wie Architektur. Die innere Struktur einer Blume ist wie ein gutes Gebäude.“ Um sie nachzubauen, gibt es kein besseres Material als Porzellan, findet er. „Es ist durchscheinend und zart. Granit wäre weniger geeignet.“ Zu Hause in seinem Studio, nicht weit von Manhattan, macht er auch Skulpturen aus anderen Materialien. Als Architekt hat er zuletzt eine Villa am Schwarzen Meer geplant.
Kanevsky, grauer Anzug und Lachfältchen um die Augen, ist ein zurückhaltender Mann. Auch seine Kunst ist zurückhaltend präsentiert: neun weiße Sockel, schwarzer Hintergrund. Oft, so sagt Meissen-Chef Christian Kurtzke, gehe es ja mehr um Inszenierung als um die Exponate. Bei Kanevsky sei das Gegenteil der Fall. Mit dessen Stillleben will er nun dem Satz auf Wikipedia etwas entgegensetzen, der ihn am meisten ärgert: „Die Manufaktur hatte ihre Blütezeit im 18. Jahrhundert.“ Kurtzke sieht gar einen neuen Zeitgeist gekommen: „Vladimir Kanevsky sieht die Schöpfung von der weiblichen Seite.“ Die Porzellankunst sei 300 Jahre lang von Männern geprägt worden. „Jetzt marschiert das Weibliche voran.“ Der Feminismus ist in Meissen angekommen.