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Der Erste Weltkrieg trifft Görlitz in voller Blüte

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt das Wachstum zu einer großen preußischen Stadt. Überall ist Fortschritt.

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Von Ralph Schermann

Mitten im Juli denkt vor hundert Jahren kaum ein Görlitzer, sich bald in einer Völkerschlacht wiederzufinden, die als bisher größtes technisiertes Gemetzel in die Geschichte eingeht, die für den erstmaligen Einsatz von Flugzeugen, Panzern, U-Booten und Giftgas steht. Mitten im Juli sind Schlieffenplan und Marneschlacht, Stellungskrieg und Dolchstoßlegende noch unbekannt. Selbst als Soldaten Anfang August ins Feld ziehen, ahnen sie noch nicht, dass bald Männer aus insgesamt 38 Staaten zu den Waffen gerufen werden.

Kaisertrutz und Kaisertreue – wenn das keine markige deutsche Aussage ist. In Görlitz wurde sie zu Zeiten des Ersten Weltkriegs auf Postkarten angeboten.
Kaisertrutz und Kaisertreue – wenn das keine markige deutsche Aussage ist. In Görlitz wurde sie zu Zeiten des Ersten Weltkriegs auf Postkarten angeboten.

In Görlitz stoppt der Erste Weltkrieg eine aufstrebende Entwicklung. Der Ort hat sich im 19. Jahrhundert zu einer großen preußischen Stadt entwickelt. Straßen und Plätze orientieren sich an Berlin, Kultur- und Verwaltungsbauten sowie ausgedehnte Parkanlagen haben die Stadt zu einem begehrten Wohnsitz werden lassen. Bis der Krieg hereinbricht, lebt Görlitz gewaltig auf. Die Stadtverwaltung legt ein gigantisches Bauprogramm auf, denn sie rechnet damit, dass sich die damals knapp 90 000 Einwohner in zwei, drei Jahrzehnten auf 180 000 Menschen verdoppeln werden. Diese Annahme führt zur Planung eines nicht realisierten Ringstraßensystems, richtet Kanalisation und Gemeinschaftsbauten auf diese Zielgröße aus: Kaufhaus, Stadthalle, Synagoge, Stadtbibliothek, Kreuzkirche, Ruhmeshalle, Feuerwache, Sparkassenzentrale, Bahnhofsneubau – die Zeit vor 1914 ist an Optimismus nicht zu bremsen. All das schwelgt in Kaisertreue, mit mehreren Kasernen ist das Militär überall im Stadtbild präsent. Die Wirtschaft brummt, Betriebe wie Waggonbau, Maschinenbau und Meyer-Optik werden immer größer. Vor Kriegsbeginn berichtet Oberbürgermeister Georg Snay, dass es in Görlitz 3 975 Arbeiterinnen und 12 837 Arbeiter gibt. 1912 hatten sie einen Bildungsausschuss der SPD gegründet, die Organisierung der Arbeiter beginnt. Bei Kriegsbeginn hat die SPD 5 000 Mitglieder, 7 000 sind gewerkschaftlich organisiert.

Im Juli 1914 scheint alles noch zutiefst beschaulich. Auf Görlitzer Straßen regieren die Pferdefuhrwerke und Fußgänger. Reichlich hundert Autos nur sind angemeldet. Die elektrische Straßenbahn bewältigt den Nahverkehr der in alle Richtungen wachsenden Stadt, die Post leert mehrmals täglich ihre 85 Briefkästen. Die Statistik zählt exakt 1 169 Läden, 4 578 Dienstboten, knapp 1 200 Telefonanschlüsse, 25 000 Wohnungen (davon 3 100 mit WC). Vom Nobelhotel bis zur Gartenkneipe können die Görlitzer unter 277 Gaststätten wählen, und auf dem Heimweg begleiten sie 1 500 Gaslaternen. In der Stadt gibt es aber auch rund 500 Obdachlose.

Stark ausgeprägt ist das Vereinsleben jener Zeit. Fast jeder Görlitzer ist Mitglied in einem der zahllosen Kultur-, Sport- und Geselligkeitsvereine. In 25 Gesangsvereinen wird deutsches Liedgut gepflegt, aber nicht nur dort. Es gibt auch 24 mitgliederstarke Militär- und Kriegervereine. Und kurz nach der Idylle gibt es Krieg.