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Der gelebte Traum

Wie eine Görlitzer Familie im polnischen Lomnitz mit viel Mut und Fantasie ein verfallendes Schloss zum feinen Hotel ausbaut – und in zwei Welten lebt.

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Von Frank Seibel

Nur der Dieselgeruch passt nicht. Ulrich von Küster riecht an seinen Händen, als die Kellnerin den Teller mit Wild, Rotkohl und schlesischen Klößen bringt. „Ich habe gerade noch den alten Traktor repariert“, sagt er und hängt seine alte waldgrüne Arbeitsjacke an den Haken. Ansonsten ist alles ganz akkurat in der Gaststube des alten Rittergutes. Mittagszeit auf Schloss Lomnitz in Schlesien. Normalerweise gehört der Platz in dem holzgetäfelten Raum den Gästen. Doch es ist Winter, ein ruhiger Sonnabend am Ufer des Flüsschens Bober kurz hinter Hirschberg. „Schrecklich ruhig“, sagt Elisabeth von Küster und lacht herzlich. Sie hat ihre blonden langen Haare am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Ihre lange Strickjacke hat etwas von jener ländlichen Eleganz, die alten Herrenhäusern in der Provinz eigen ist. Zum Glück wird der Frühling bald wieder Besucher bringen ins Hirschberger Tal, das einst berühmt war für seine vielen kleinen Schlösser – und es langsam wieder wird.

Das ist nicht zuletzt das Verdienst von Elisabeth und Ulrich von Küster. Gerade erst war die 41-Jährige in Warschau beim Parlamentspräsidenten. Eingeladen war sie, um in der polnischen Hauptstadt die Aufnahme des Hirschberger Tales in die Liste der nationalen Kulturerbestätten zu feiern. Das ist etwas sehr Besonderes, sagt Elisabeth von Küster. Die Polen haben sich jahrzehntelang schwergetan mit dieser Idylle. Denn all die malerischen Städtchen und Güter sind ursprünglich ein deutsches Erbe. Erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges heißt Hirschberg Jelenia Gora und der Vorort Lomnitz nun Lomnica.

Seit beinahe zwei Jahrzehnten arbeiten von Küsters daran, das prächtige Erbe vor dem Verfall zu retten und es neu zu beleben. Ein deutsches Ehepaar in Polen, eine besondere Erfolgsgeschichte im vereinten Europa. Das kleine und das große barocke Schloss, deren Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, sind heute die erste Adresse für Ausflugsgäste und Urlauber mit feinem Geschmack und Kultursinn.

„Ich bin in einem ganz normalen Einfamilienhaus in Wiesbaden aufgewachsen“, erzählt Ulrich von Küster. „Ich wollte immer schon ein Denkmal sanieren. Das fand ich viel interessanter, als irgendein modernes Haus zu bauen oder zu kaufen.“ Dass es mal so ein großes Denkmal sein würde, daran dachte der heute 48-Jährige nicht. Auch nicht an das Schloss seiner Vorfahren in Schlesien, das in den 1980er-Jahren noch unerreichbar weit entfernt schien. Aber in den Familienerzählungen spielte die alte preußische Heimat immer wieder eine Rolle. So sehr, dass sie dem Juristen immer mehr zu einem Vorbild wurde.

Schloss Lomnitz ist mehr als ein schöner Landsitz. Es ist ein geradezu utopischer Gegenentwurf zu einer Welt, in der alles immer schneller und beliebiger wird, in der man ständig kauft und wegwirft und menschliche Beziehungen immer unverbindlicher werden. Man kann auf ein Ökogut wie den Lebenshof Pomritz bei Bautzen reisen, um Aussteigern mit Weltverbesserungsträumen zu begegnen. Oder man kann nach Lomnitz reisen, wo eine alte und lange vom Zeitgeist beargwöhnte Welt als wundersamer Kontrast zum üblichen Hier und Jetzt wieder aufersteht. Eine Welt, in der es ein klares Oben und Unten gab, in der die einen Besitz hatten und die anderen dienten. Aber eine Welt auch, in der das Oben fürs Unten verantwortlich war. So ein Gutsbezirk, sagt Ulrich von Küster, der Jurist, war bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht nur ein Grundstück, sondern eine Gebietskörperschaft, der Besitzer war ein kleiner Herrscher in seinem Reich, mit Privilegien, aber auch Pflichten und Verantwortung.

Vor einiger Zeit hat Ulrich von Küster beim Renovieren eines Dachstuhles ein altes Registerbuch entdeckt. Darin fand er ein makabres Beispiel dafür, wie weit die Verantwortung eines Gutsherrn für die Menschen reichte, die hier lebten und arbeiteten. Ein Knecht auf Gut Lomnitz hatte sich irgendwann im 19. Jahrhundert erhängt, und die Verzweiflungstat taucht in dem Buch als Geldzahlung auf. Der Bestatter hatte eine detaillierte Rechnung geschrieben, die auch die Position „Abschneiden“ enthielt. Der Gutsherr musste für alle Bestattungskosten der Untergebenen aufkommen. Ob der Knecht allerdings unter den Lebensverhältnissen litt oder unter Liebeskummer, lässt die Buchhaltung offen.

Für den Preußen-Fan Ulrich von Küster gehört es allerdings zum Bild eines Schlossherrn, dass er nicht nur lustwandelt, sondern vor allem fleißig ist und tugendhaft. Die Idylle hier ist nicht vom Himmel gefallen. Es stecken viele Jahre Arbeit darin, auch echte, rustikale Handarbeit. Dabei ist die Bastelei an alten Traktoren wirklich nur ein Hobby. Doch beim Entrümpeln und Entkernen, beim Graben und Mauern haben Ulrich und Elisabeth von Küster immer mit angepackt. So ist mittlerweile fast alles fertig: das kleine Schloss mit dem schönen Restaurant und dem stilvollen Hotel, das große Schloss mit der Ausstellung über die Schlösser im Hirschberger Tal und dem hübsch inszenierten Schloss-Ambiente, auch die großen Scheunen, die ein wenig abseits liegen. In der größten Scheune haben Küsters ein zweites Restaurant eingerichtet. Vor allem die Einheimischen, sagen sie, haben doch ein bisschen zu viel Respekt vor dem feinen Schlossrestaurant. So bietet die riesige Scheune rustikalen Charme mit gutem bodenständigem Essen unter Kreuzgewölbe.

Elisabeth und Ulrich von Küster haben viel mitgebracht nach Lomnitz, als sie Anfang der 1990er-Jahre das Anwesen kauften, das bis 1945 über ein Jahrhundert lang im Familienbesitz der von Küsters gewesen war. Vor allem eine Unmenge an Begeisterung und Idealismus. „Als wir hier ankamen waren die Häuser so grau und trist wie in Görlitz nach der Wende. Aber das Leben hier war lustig und bunt“, erinnert sich Elisabeth von Küster und lacht so frei, wie das sonst nur Kinder tun. Was sie nicht im Überfluss hatten, war Geld. Und, ehrlich gesagt, auch nicht Ahnung von Gastronomie. „Wir haben uns immer davon leiten lassen, was wir selbst gerne mögen“, sagt Elisabeth von Küster. Es dauerte einige Jahre und mehrere Köche, bis Schloss Lomnitz zu einer der besten Adressen weit und breit wurde. Heute ist das Wildgulasch wunderbar zart. Auch schlesisches Himmelreich steht auf der Karte, eine Spezialität mit verschiedenen Sorten Fleisch und Früchten.

Auf diesem Weg haben Küsters auch eine Menge Lehrgeld gezahlt. Es gibt eine Episode, die zu den wenigen zählt, die sie nicht mit einem Lächeln erzählen. Da war der polnische Partner, den sie brauchten, um überhaupt als Deutsche in Polen Grund und Boden zu kaufen. Der war nicht nur Mittelsmann zu den polnischen Behörden, sondern auch Geschäftsführer von Restaurant und Hotel. Nach ein paar Jahren, mitten in der Hauptsaison, verließ der Manager Lomnitz und ging seine eigenen Wege. „Ich musste ins kalte Wasser springen und von einem auf den anderen Tag die Geschäfte hier leiten“, erzählt Elisabeth von Küster. Und schon nach kurzer Zeit stellte sie fest, dass sich die Umsätze verzehnfachten – obwohl sie nicht mal richtig Polnisch konnte. „Ich dachte: Wow, bin ich toll. Bis ich feststellte, dass etwas nicht stimmen konnte. Der Umsatz war zwar viel höher als sonst, aber die Zahl der Gäste nicht.“ Mindestens zwei Jahre lang, glauben die Küsters, sind sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen worden. Das Bitterste: Mit diesem Geld habe ihr einstiger Partner eine feine Konkurrenz mit zufällig ganz ähnlichem Konzept aufgebaut. In Görlitz hätte Ulrich von Küster solch einen Fall vermutlich irgendwann als Akte auf seinem Schreibtisch. Denn als Richter am Amtsgericht ist er dort auch für Wirtschaftskriminalität zuständig.

Doch auch ohne finanzielle Rückschläge hätten die Küsters ihren speziellen Weg verfolgt, sich den Traum vom Schlesischen Schloss zu erfüllen. Dazu gehören, Augenmaß, Bescheidenheit und Witz. Die edlen Möbel im Gelben Schloss, die für die Eleganz eines preußischen Adelssitzes unerlässlich sind, stammen vom Trödelmarkt oder gar vom Sperrmüll. „In Hessen konnte niemand solche Möbel gebrauchen“, erinnert sich Elisabeth von Küster an die Beutezüge in und um Wiesbaden. Alt war out. Im Hauptraum der Schloss-Ausstellung gibt es eine irre lange Couch aus der Biedermeierzeit. „Die passt ja dort in keine Wohnung“, sagt die Schlossherrin.

Märchenhaft“ nennen die von Küsters ihr Schloss mit dem zehn Hektar großen Park. Mit diesem Wort locken sie Touristen, aber an diesem Wort halten sie sich auch selbst fest. Märchenhaft ist es geworden, ein bisschen unwirklich. Dazu passt, dass die Familie nicht nur in einer Welt lebt, sondern mindestens in zweien – und das mit fünf Kindern zwischen sechs und 14 Jahren. Elisabeth von Küster lebt seit Jahren fast ausschließlich in Lomnitz, jeweils mit den Kindern, die noch nicht zur Schule gehen. Das ist jetzt nur noch Marie. Ulrich von Küster lebt mit den Schulkindern 80 Kilometer entfernt in einer – natürlich einst völlig maroden – Stadtvilla in Görlitz. So hat das Leben im Märchenschloss gleichsam einen bürgerlichen Ankerplatz, auch wirtschaftlich.

Bei allem Glück, einen großen Traum leben zu können, haben Elisabeth und Ulrich von Küster doch die wahre Welt mit all ihren Unwägbarkeiten nie aus dem Blick verloren. Sie sehen, wie ihr Schloss einerseits eines von mehreren im Hirschberger Tal geworden ist, die nun saniert sind und Hotelgäste einladen, und sie sehen, wie das Ansehen dieser schlesischen Kulturlandschaft international wächst. Sie sehen aber auch, dass ihre märchenhafte Welt in seiner wunderbaren Altertümlichkeit allein dasteht zwischen einem merkwürdig standardisierten Luxus der schönen neuen Wellnesswelt einerseits und einer wirtschaftlich angeschlagenen Region andererseits. Ja, sagen sie, es gibt gewissen Wohlstand in diesem Teil Polens, aber mit Lebensstil, wie sie ihn verstehen, hat der nichts zu tun. Fantasielose Neubausiedlungen, herzlose Handelszentren. Kultur, sagen sie, sieht anders aus. Statt Tourismus im Hirschberger Tal und im Riesengebirge klug und beharrlich zu fördern, setzen die Kommunalpolitiker in und um Hirschberg auf fragwürdige Industriegebiete.

Und dann wären da noch die großen Turbulenzen in der Weltwirtschaft. Wer weiß, wohin das noch führen wird. Den bürgerlichen Anker mit dem gut dotierten Beamtenjob in Deutschland wollen die Küsters nicht lichten. Obwohl das Märchen von Lomnitz nicht nur durch EU-Fördermittel, sondern durch private Passionen am Leben erhalten wird. Neulich hat ein deutscher Unternehmer in den früheren Stallungen eine komplette Lehrküche eingerichtet. Mit mehreren teuren Herden, mit Kühlschränken und chromblitzenden Arbeitsflächen. Es ist doch schön, wenn Kinder und Jugendliche lernen, wie schlesische Küche funktioniert. Manchmal geraten die irdischen Regeln außer Kraft, wenn das schlesische Himmelreich so nah ist.