Von Udo Lemke
Seine Früchte sind ungenießbar und doch eine Delikatesse. Er ist so selten, dass ihn die meisten nie zu Gesicht bekommen. Und er ist so eigenartig, dass ihn nur Fachleute sicher erkennen – die Rede ist vom Wildapfelbaum.

Erst kürzlich hat eine Studie der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) ergeben, dass es davon in ganz Deutschland nur noch 5 661 Stück gibt. Zum Vergleich: Allein im Dresdner Großen Garten stehen 6 000 Altbäume, die mindestens 150 Jahre zählen. Noch seltener als der Wildapfel ist nur noch ein anderer Wildobstbaum, der Speierling. Von diesem wurden noch ganze 2 500 Individuen gefunden. Nach dem Wildapfel kommt auf der Seltenheitsskala mit schon weitem Abstand an dritter Stelle die Wildbirne mit deutschlandweit etwa 14 000 Exemplaren.
Dafür, dass der Wildapfelbaum im Laufe der Jahrhunderte eine solche Rarität geworden ist, nennt Andreas Roloff einen ganzen Strauß an Gründen. Der Forstprofessor an der TU Dresden führt als ersten an, dass der Wildapfel konkurrenzschwach ist. „Er braucht viel Licht, dass ist der Schlüssel für sein Gedeihen.“ Dort, wo anderen Baumarten in Schatten und Halbschatten noch wachsen, würde der Wildapfel ausdunkeln, wie der Fachmann sagt. Das geschah in großem Stile, weil im Laufe der Jahrhunderte die Nieder- und Mittelwälder, die anders als die Hochwälder mit ihren Baumriesen sehr viel lichter sind, zurückgedrängt wurden.
Ein zweiter Grund für den rapiden Rückgang der Wildapfelvorkommen ist der aus Asien stammende Kulturapfel mit seinen unzähligen Sorten. Hier wurde dem Wildapfel seine Natur zum Verhängnis, wie Andreas Roloff erklärt: „Die Früchte sind kugelförmig und maximal drei Zentimeter dick, grün oder gelbgrün und ohne rote Backe, die rundlichen bis eiförmigen Blätter sind kahl, oft mit einseitig verbogenen Blattspitzchen, am Stamm gibt es vertrocknete dornenähnliche Triebe.“ Hinzu kommt, dass die Wildäpfel frisch ungenießbar sind. Denn sie schmecken nicht nur extrem herb, sondern sind auch hart wie Holz, was ihnen den Namen Holzapfel bzw. im Dialekt Holzäppel einbrachte. Allerdings – „in gedörrtem oder gekochtem Zustand sind die Holzäpfelchen eine Delikatesse“. Man kann sie etwa zu Gelee oder einem kernigen Obstbrand verarbeiten. „Die Früchte des Wildapfels gelten unter Kennern als Produkte der Naturapotheke: Nach dem Trocknen eignen sie sich für einen Tee gegen Erkältung, Fieber oder Durchfall. Die „Huldsäbbln“ werden im Erzgebirge als natürliche Antibiotika geschätzt.“ Und nicht zu vergessen: Aus dem schönen, dunkel- und hellbraun gemaserten Holz des Wildapfelbaumes werden Ohrringe, Broschen, Ketten, Kreisel und Räucherhäuschen gefertigt.
Als einen dritten Grund für die Verdrängung des Wildapfelbaumes nennt Andreas Roloff das Problem der Bestäubung. Der Wildapfel ist einhäusig, das heißt, dass männliche und weibliche Blüten zusammen in einer Krone vorkommen. Ein sinnreicher Mechanismus verhindert, dass es zur Selbstbestäubung kommt. Also müssen Bienen von anderen Wildapfelbäumen Pollen bringen, damit die Früchte wachsen. Und das ist das Problem. „Im bundesweiten Durchschnitt beträgt die Populationsgröße nur 23 Individuen“, heißt es in der BLE-Studie. Kleine Gruppen von Wildapfelbäumen sind von riesigen Kulturapfelplantagen umgeben. Häufig stehen die Wildapfelbäume allein oder zu zweit, so wie die beiden Exemplare, die Andreas Roloff an der Großen Röder zwischen Zabeltitz und Walda entdeckt hat. Bestäubt nun eine Biene einen Wildapfelbaum mit Pollen eines Kulturapfels, dann gibt es Mischformen. Deshalb werden alle Wildapfelbäume genetisch untersucht, ob es sich auch wirklich um Wildapfelbäume handelt, erklärt der Professor.
Auf die Frage, wie viele Wildapfelbäume es im Landkreis Meißen gibt, schaut Andreas Roloff einen Moment auf die Elbe, die an seinem Haus in Nieschütz vorbeieilt und sagt dann – „etwa 50.“ Die bislang bekannt sind, kennt er alle, denn auf Wanderungen durch den Kreis sucht er gezielt nach ihnen. Die Schwierigkeit dabei: „Der Wildapfelbaum fällt nur auf, wenn er blüht.“ Hat man ihn, dann lässt sich von der Stammdicke nur bedingt auf sein Alter schließen: „Das Höchstalter liegt bei etwa 100 Jahren. Wildäpfel treiben sehr gut aus dem Stock wieder aus, wenn der Baum abgesägt wurde oder abgestorben ist. Nicht ausgeschlossen, dass etliche der heute noch stehenden Wildäpfel daher bis zu 1 000 Jahre und älter sein können.“
Andreas Roloff ist Vorsitzender des Kuratoriums „Baum des Jahres“. Das hat Malus sylvestris – wie der Wildapfel mit wissenschaftlichem Namen heißt – dazu für dieses Jahr gekürt. Damit erhöhen sich seine Chancen aufs Überleben erheblich. „Als die Eibe 1994 ,Baum des Jahres’ war, sind bundesweit etwa 100 000 Exemplare gepflanzt worden.“ Was den Wildapfel betrifft, „wird er in den Baumschulen jetzt natürlich knapp“, so Andreas Roloff. Aber bei der Grünen Liga in Dippoldiswalde könne man anfragen, die hätten noch pflanzfähige Bäumchen.
Die Grüne Liga Osterzgebirge kümmert sich in verschiedenen Projekten um den Wildapfel, denn Sachsen ist für diesen eines der letzten kleinen Paradiese in Deutschland. Etwa 1 000 der deutschlandweit 5 600 Exemplare sind hier zu Hause, schätzt Andreas Roloff. Besonders im Osterzgebirge fand der Wildapfel ein Rückzugsgebiet auf den dort von den Bauern angelegten Lesesteinhaufen, erklärt er. Nicht umsonst wird die Gegend im Osterzgebirge um Geising und Glashütte, mit Höhenlagen bis zu 800 Meter im Volksmund das „Holzäppel-Gebirge“ genannt.
Seitens der BLE heißt es: „Im Osterzgebirge haben Wissenschaftler bereits 625 Wild-Äpfel erfasst und sowohl morphologisch (anhand der botanischen Merkmale – Anm. d. Red.) als auch genetisch charakterisiert. Zudem wurden an 150 Standorten Pflegearbeiten wie Freischneiden durchgeführt.“ Jeder bekannte Wildapfelbaum wurde mit GPS erfasst, etwa 300 Wildäpfel werden am Institut für Obstzüchtung Pillnitz auf ihre genetische Echtheit untersucht, anschließend werden einige Muttergehölze in Pillnitz bestäubt – junge Wildäpfel sollen später auf zwei Flächen angepflanzt werden, teilte die Grüne Liga mit.
Andreas Roloff wünscht sich, dass die Kür des Wildapfels zum „Baum des Jahres“ das Bewusstsein um die Schutzwürdigkeit dieser botanischen Kostbarkeit stärkt. Damit uns die Holzäppel auch in Zukunft erhalten bleiben.
www.baum-des-jahres.de