Von Jörg Stock
Das Haustelefon knackt. Dann meldet sich Herr E., mit leiser Stimme. Ob er sich an den Fall mit dem toten Baby erinnert? Zuerst weiß er nicht, wovon die Rede ist. Dann aber doch. Das ist ja schon lange her, sagt er. Ja, im Nachbarhaus ist das passiert. Dort herrschten schlimme Zustände damals, sagt Herr E. Ofenheizung, Außenklo. Viele Leute waren schon ausgezogen. Die junge Frau mit den zwei kleinen Kindern ist ihm nicht aufgefallen. Nur die Fernsehteams später, von RTL und Sat 1. „Mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen.“ Knack. Das Telefon schweigt.


Heute wohnt niemand mehr neben Herrn E. im Haus Dresdner Straße 82 in Heidenau. Obwohl die Fassade schön gemalert ist, gähnt jedes Fensterloch nackt und leer. Der Eigentümer hat sich wohl mit der Sanierung übernommen, sagen die Nachbarn. Wer die unfassbar traurige Geschichte kennt, die hinter den sonnig getünchten Mauern passiert ist, der mag wohl an einen bösen Fluch denken.
Es ist der 21. Dezember 1995. Lautes Kinderwimmern dringt aus der Wohnung von Ulrike P. Vor vier Wochen ist die junge Frau, 23 Jahre alt, mit ihren Kindern Tatjana (2) und Patrick (11 Monate) eingezogen. Die Nachbarn kriegen Frau P. – wenn überhaupt – nur spät am Tage und völlig verschlafen zu Gesicht. Das Kindergeschrei aber hören sie oft. Das Jugendamt ist verständigt, kam auch schon zum Hausbesuch, stand aber vor verschlossener Tür.
An diesem 21. Dezember nun – Frau P. war wieder tagelang nicht gesehen worden – wird es Mieterin Z. angst. Gegen 16 Uhr alarmiert sie das Heidenauer Ordnungsamt. Die Polizei kommt, bricht die Tür auf. Die Beamten bahnen sich einen Weg in das mit Möbeln verrammelte Kinderzimmer. Dort finden sie Tatjana, halb nackt und halb verhungert, und ihren Bruder Patrick, tot. Der Kleine liegt in seinem Bettchen, das völlig mit Urin durchtränkt ist. Er hat wochenlang keine frischen Windeln bekommen. Patrick starb, so wird es später eine Expertin feststellen, weil er hochgradig unterernährt und unterkühlt war.
Ralf Hubrich und seine Kollegen von der Pirnaer Kripo treffen ein. Sie dokumentieren den Tatort, sichern die Spuren. Dem erfahrenen Kripomann Hubrich, selbst dreifacher Vater, geht an die Nieren, was er sieht. Die magere, kleine Leiche, daneben eine verdreckte Babyflasche. Noch nie ist ihm ein so krasser Fall von Kindesvernachlässigung vorgekommen, und es wird bis zu seiner Pensionierung nichts Vergleichbares geben. Für einen Kriminalisten ist es das Schlimmste, wenn es um tote Kinder geht, sagt er. Vor allem, wenn sie so klein sind. „Sie können sich doch nicht wehren.“
Ulrike P.s Wohnung hat Ralf Hubrich nicht allzu schlimm in Erinnerung. Alles sei zwar „etwas lieblos“ gewesen, sagt er. Aber es war kein Loch. „Man konnte sich dort aufhalten.“ Wo hält sich Ulrike P. auf? „Wir wussten, dass sie sich vornehmlich in Bars und Discos herumtrieb“, sagt Hubrich. Bürgerhinweise führen die Polizisten zur Petticoat-Bar in die Heidenauer Thälmannstraße. Noch am selben Abend, gegen 22.15 Uhr, wird Ulrike P. vor dem Lokal verhaftet. In der Vernehmung gesteht sie, sich seit dem 18. Dezember nicht mehr um ihre Kinder gekümmert zu haben.
Während Ulrike P. in Untersuchungshaft kommt, muss die kleine Tatjana ins Kinderheim am Pirnaer Varkausring. Ralf Hubrich besucht sie dort. Die Erzieher berichten ihm Befremdliches. Sobald es Essen gibt, nimmt es die Kleine an sich und flüchtet damit, versucht, es zu verstecken. Offenbar hat sie Angst, wieder hungern zu müssen. „Das sagt ganz viel aus“, findet Hubrich, den das bis heute bewegt.
Auf Ulrike P. trifft Ralf Hubrich zur Vernehmung im Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg im Erzgebirge. Er erlebt eine normal entwickelte junge Frau, die keinesfalls unzurechnungsfähig ist, die offen redet. Sie habe das nicht gewollt, sagt sie, habe doch was zu trinken hingelegt, habe gedacht, das geht so. Hubrich glaubt, sie war überfordert. „Sie wollte mehr vom Leben, als zu Hause auf zwei Kinder aufzupassen.“ Nach der Mittagspause bemerkt der Kommissar, dass mit Ulrike P. etwas nicht stimmt. Er ist sich sicher: Sie wurde von ihren Mitgefangenen körperlich gezüchtigt, wegen ihrer Untat. Eine Aussage dazu will Frau P. nicht machen. „Sie hatte dort kein einfaches Leben“, sagt Hubrich.
Im Juni 1996 steht Ulrike P. in Dresden vor dem Schwurgericht. Die ganze Tragik des Vorgangs kommt noch einmal ans Licht. Ulrike P. stammt aus Coburg in Oberfranken und wuchs relativ behütet in einer fünfköpfigen Familie auf. Sie muss gewusst haben, was familiäre Wärme bedeutet, stellt die Staatsanwaltschaft fest. Nach Heidenau zu ziehen, war die Idee von Ulrike P.s damaligem Freund, des Vaters von Patrick. Im Januar 1995 richtete sich die Familie in einer Neubauwohnung ein. Doch schon im Sommer setzte der Freund Ulrike P. und ihre Kinder vor die Tür. Ulrikes Lebensplan platzte. Sie ließ sich gehen, begann zu trinken, zu verwahrlosen, strandete endlich in der Dresdner Straße 82.
Ihre Kinder sperrte Ulrike P. nun immer öfter ein. Sie empfand sie als Belastung, sagt sie dem Gericht. „Wenn ich früh nach Hause kam, wollte ich meinen Rausch ausschlafen. Nachdem ich die Kinderzimmertür mit schweren Gegenständen von außen verbarrikadiert hatte, verkeilte ich zur Sicherung der Türklinke einen Besenstiel.“ Dass Patrick immer mehr abmagerte, habe sie wohl bemerkt, gibt die Angeklagte zu. Das sei ihr aber egal gewesen.
Der Richter bescheinigt Ulrike P., die größte Schuld als Mutter auf sich geladen zu haben, indem sie ihr hilfloses Kind tötete. Am 27. Juni 1996 wird sie wegen Totschlags und Verletzung der Fürsorgepflicht zu zehn Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zwei Drittel der Strafe sitzt sie ab. Anfang 2003 kommt sie auf Bewährung frei. Sie fällt danach nicht wieder auf. Die Spur der kleinen Tatjana verliert sich. Das Jugendamt macht aus Datenschutzgründen keine Angaben über ihr Schicksal.