Von Tilman Steffen
Marcel Pfaus Vater kam aus dem Elsaß, dem bis 1918 deutsch besetzten Grenzland in Frankreich. „Wein, Weib und Gesang“, so ein Typ sei sein Vater gewesen, sagt Marcel Pfau. So kam er 1918 auch zu seinem französischen Namen: Lucien Marcel, vor 84 Jahren geboren in der Görlitzer Jakobstraße, getauft in der Frauenkirche. Der damalige Pfarrer habe sich noch Jahre später gut erinnern können „an den, der so geschrien hat“, sagt Pfau. Görlitz war damals eine pulsierende Metropole mit mehr als 100 000 Einträgen im Melderegister.
Im Afrikafeldzug trieb Hitler den jungen Wehrpflichtigen zu den Pyramiden und an den Nil, später im Kampf gegen die Rote Armee gen St. Petersburg. Die amerikanischen Befreier versetzten ihn 1945 an die Weser, nach Bremen. Mehr als 50 Jahre später kam er zurück an die Neiße.
Warum? Pfau litt wie viele andere Auswanderer auch darunter, dass ihnen die Akzeptanz der Mitbürger versagt blieb. Wer weniger als drei Generationen an der Weser lebt, „bleibt ein Rucksack-Bremer“, sagt Pfau. „Und wenn die Einheimischen nicht wollen, dass du sie verstehst, dann reden sie Platt“, den niederdeutschen Dialekt der Küstenregionen. Als Landratte blieb Pfau chancenlos, ausgegrenzt, ein Zugereister, ein Fremder.
In Görlitz dagegen ist Pfau zu Hause. Eigentlich auf der Emmerichstraße, doch sein zweites Heim liegt am oberen Neißewehr: Es sind die alten Schuppen und einstigen Lagerräume der Obermühle, in denen die Armada von Pfaus Ruderbooten lagert. Es ist die Gaststube der Obermühle, die Pfau durch die Hintertüre betreten darf und deren Wirtin Susanne Daubner ein nicht unbedeutender Fixpunkt in Pfaus Leben ist. Nein, diese Beziehung sei „rein platonisch“, beteuert er schmunzelnd bei einer Tasse Filterkaffee. „Ich bin ja viel zu alt.“ Pfaus rotgrünblauer Schal verleiht ihm Eleganz, aus den Ärmeln seines dunklen Ledermantels lugen Manschettenknöpfe hervor. Beim Erzählen liegen seine Hände ineinander auf der Tischplatte. Doch kommen die Frauen aus dem benachbarten Bildungszentrum herein, setzt sich Pfau aufrecht, nimmt die blaue Schirmmütze ab, streicht auf seinem Kopf die dünnen, weißen Strähnen nach hinten und versucht, Blicke zu erhaschen – der Elsässer Einfluss wirkt bis heute.
Noch sechs Wochen, dann wird er neben der Terrasse der Obermühle wieder die elf Plastikkähne ins Neißewasser gleiten lassen. An schlechten Tagen kämen zwei oder drei Familien, an sonnigen Wochenenden reichen die Boote nicht. Besucher hätten den naturbelassenen Neißefluss schon mit dem Mississippi verglichen.
Der Bootsmann kann den Start kaum erwarten: „Nichts ist schlimmer, als nichts zu tun.“ Zurzeit lähmt der Winter selbst die Reparaturarbeiten. „Das Epoxit wird nicht fest bei der Kälte“, erklärt Pfau und meint das Kunstharz, mit dem er an den Bootsrümpfen Blessuren kittet.
Pfaus Leben steckt voller Begebenheiten. Wie die von den zwei Männern, die Pfau schon vor dem Rudertrip fünf Euro in die Hand drückten. Nach einer halben Stunde kam nur einer zurück an Land. „Kollege schlafen“, erklärte der in gebrochenem Deutsch das Fehlen seines Mitfahrers. Wenig später hatte der Bundesgrenzschutz den Flüchtigen gefasst, einen Ukrainer ohne Pass, der nach Hause zurück wollte. Polnische Grenzer hatten ihn vom Neißeviadukt aus durch ihre Ferngläser erspäht. Seitdem muss Pfau in eine Liste eintragen, wer wann welches Boot leiht.
In der Werkstatt seines Vaters hat Pfau den Beruf des Orthopäden gelernt. Das Unternehmen an der Jakobstraße florierte, vor allem unmittelbar nach den Kriegen. Doch Pfau bastelte lieber, im amerikanisch besetzten Bremen lötete er aus verschrotteten Funkgeräten der US-Army einfache Radioempfänger, „nur Einkreiser, aber sie machten Musik“. Erstes Geld verdiente er als Haustürhändler für Fernsehgeräte, er brachte es bis zum Kolonnenführer: „Erst haben wir die Mädchen vorgeschickt, dann kamen wir mit den Geräten nach“, beschreibt er die damalige Erfolgstaktik. Später verkaufte er im eigenen Geschäft TV-Geräte von Nordmende, eine Reparaturwerkstatt kam hinzu. Die Jahre an der Weser haben Pfau zum Bootsnarren gemacht: Kurz vor seinem achzigsten Geburtstag segelte er in Görlitz mit einem Katamaran über das Wasser der Neißebiegung. Das Doppelrumpfboot kaufte er 1970 auf der Hamburger Bootsmesse, heute gehört es seinem Neffen. Im Nebeneingang der Obermühle dokumentieren gerahmte Fotos das erfolgsarme Experiment: „Auf dem Rückweg sind wir mehr gepaddelt, als gesegelt“, erinnert sich Pfau. Egal, er hatte es versucht.
Seinen Geburtstag feiert er immer noch unter Mast und Großbaum eines norwegischen Segelschiffes. Jährlich im Oktober trifft sich Großfamilie Pfau auf der „Rakel“ in Bremerhaven, auf den mehr als hundert Jahre alten Planken feiern drei Generationen auf offener See bei Käse und Wein, Haushund Bingo springt übers Deck.
Richtig abgerissen war Pfaus Verbindung nach Görlitz nie. Das erste Mal kam er 1946 dahin zurück, im Gepäck einen Eimer Salzheringe. Ein Jahr nach Kriegsende war er als Lieferant derart begehrter Ware „der König“, sagt Pfau. Später meldete er sich offiziell bei der Leipziger Messe an, um illegal Abstecher nach Görlitz zu unternehmen. Erlaubt war mit dem Messevisum zu Zeiten der DDR nur das Reisen in einer 50-Kilometer-Zone. Es muss das Heimatgefühl gewesen sein, das ihn immer wieder an die Neiße zog.