Von Jörg Stock
Oh Gott, oh Gott! Jens Ribbach aus Neubrandenburg in Mecklenburg bringt kaum mehr als Stoßgebete hervor, während der Rest seiner Familie munter quasselt. Liegt es an den fünfzig Höhenmetern, die sich gerade zwischen uns und Mutter Erde auftun? Jens guckt nicht hin. Er guckt geradeaus. Oh Gott, oh Gott! Die anderen necken ihn. Swong! Da geht die Türe auf. Luft, Licht, fester Boden. Das ist das Gute an diesem Himmelfahrtsunternehmen: Die Angst dauert nie länger als 45 Sekunden.




Beklemmung im Fahrstuhl erlebt Frank Deinert oft. Als Zuschauer. Seit zehn Jahren ist er der Liftboy von Bad Schandau. Er steuert den historischen Personenaufzug der Kur- und Tourismusgesellschaft hinauf zur Ostrauer Scheibe. Fast bei jeder Fuhre, sagt er, ist einer dabei, der ein bisschen ängstlich ist. Entweder ist es Höhenangst oder Platzangst. Man sieht es in den Gesichtern. „Manche versteifen richtig.“ Deinert versucht dann Ablenkungsmanöver. Er plaudert, macht ein Späßchen. Das liegt ihm. Er ist nie verlegen um einen lockeren Spruch. Seine Mundpartie grient von Natur aus. Hauptsache ist doch, sagt er, dass man den Job nicht stumpfsinnig macht.
Heute Morgen ist eh keine Gelegenheit für Stumpfsinn. Es sind Osterferien. Die Saison geht los. Erst zehn Uhr, und auf Deinerts Fahrgastliste wachsen schon munter die Strichkolonnen. Das Jahr ließ sich gut an wegen des warmen Winters. Herr Deinert hofft, dass es so weitergeht. Nach dem katastrophalen Hochwasser 2013 braucht die Region umso nötiger Gäste. Den Aufzug in Bad Schandau nutzen jährlich zwischen 90 000 und 100 000 Menschen. Voriges Jahr fehlte etwa ein Viertel am Umsatz.
Wieso nicht gleich ein Flugzeug?
„Schönen guten Morgen!“ Deinert winkt neue Gäste in seinen Edelstahlkasten. Susanne Wolf, 50, und Sohn Christian, 14, sind aus Flechtingen in der Magdeburger Börde. Ob er eine Tour empfehlen könne, fragen sie den Aufzugführer. Deinert kann. Er schickt die zwei über die Schrammsteine, Winterberg und Kuhstall zum Lichtenhainer Wasserfall. „Oooch, ist ja herrlich!“, entfährt es Susanne, als wir vom Boden emporschnipsen. Allein für diesen Anblick hat sich die Wanderung gelohnt, findet sie.
Frank Deinert versteht gut, dass die Leute begeistert sind. Er guckt auch immer wieder gern auf sein Zuhause runter, auf Bad Schandau und das Elbtal zwischen Lilienstein und Schmilka, selbst nach zehn Jahren im Fahrstuhl. Für die Abwechslung sorgt das Wetter, aber auch mal ein ungeschickter Autofahrer, der drunten am Straßenrand beim Einparken verzweifelt. Scheint fleißig die Sonne, hat Herr Deinert kaum etwas von der Aussicht. „Dann gucke ich nur durch Menschenmassen.“
Ein kleiner Junge steigt mit seinen Eltern ein. Neugierig beäugt er die Münztürme in Deinerts Kasse. „Wieso hast Du so viel Geld?“ „Das ist nicht meins, das muss ich abgeben“, sagt Deinert pflichtschuldig. „Wieso ist hier ein Fahrstuhl?“ Da erzählt Herr Deinert kindgerecht von Rudolf Sendig, dem hiesigen Hotelier, der seinen Gästen 1904/05 diesen bequemen Apparat als Zugang zu seinen Anlagen bauen ließ. Der Knirps lauscht, will dann wissen, ob man auch ein Flugzeug nehmen kann. „Nee“, sagt Deinert belustigt, „so weit müssen wir nicht.“ Dann sind wieder 45 Sekunden um.
Ach, die Zeit, sie läuft immer schneller, findet Frank Deinert. Nicht im Fahrstuhl. Da dauert jede Fahrt gleich lang, hoch wie runter. Nein, so ganz allgemein, sagt er. Wer hätte gedacht, dass es so schnell geht mit der ganzen Entwicklung? Dass mal alles nur noch mit Computern funktioniert? Dagegen ist sein Aufzug ein Relikt. Klar, die Technik ist auch modern. Aber das Prinzip ist dasselbe wie vor hundert Jahren: Strom, Seil und Gegengewicht. „Nur dass heute nichts mehr klappert und quietscht.“
Ein Rentnerpaar aus Dresden betritt die Gondel. Hoch nach Ostrau wollen die beiden, „mal sehen, was sich verändert hat“. Sie fragen nach den Bären. Bären? Ja, nach denen fragen viele, die lange nicht hier waren, sagt Frank Deinert. Er kennt sie auch noch. Braunbären namens Bummi und Kullerchen. Sie hatten ihr Gehege am Fuß der Sendig-Promenaden, wo heute die Luchse Alfons und Cinderella wohnen. Die Kinder warfen den Bären Zuckerwürfel vor die Gitter und sahen zu, wie sie danach angelten. Das war eine Attraktion, sagt Deinert. Mitte der 1980er, als der Fahrstuhl wegen Baufälligkeit stillgelegt werden musste, schaffte man die Petze ab. Wie? Darüber will der Aufzugführer lieber schweigen.
Sogar Amis finden’s „pretty cool“
„Okay girls, look at the window!“ Yes! Echte Amerikaner an Bord! Aus Cleveland, Ohio, „from the Great Lakes“. Aha, Eriesee und so. Fasziniert betrachten Peter und Diana mit ihren Girls Mariana und Elisa das Panorama. Die Mädels finden es „pretty cool“, mit so einem alten Gerät zu fahren, und staunen, dass es nach so langer Zeit immer noch funktioniert. Mama Diana sagt, daheim „in the US“ habe sie so was noch nie gesehen. Vater Peter, in Cleveland Universitätsprofessor für Mathematik, freut sich, dass die Familie zufrieden ist. Weil die Girls zuvor schon in Paris gewesen waren, hatte man ihnen erklärt, der Fahrstuhl sehe ein wenig aus wie der Eiffelturm. Sie seien deshalb sehr aufgeregt gewesen, „to see the Eiffelturm of Bad Schandau“.
Da ist was dran, sagt Frank Deinert. Ein Schüler Gustave Eiffels soll beim Fahrstuhlbau die Finger im Spiel gehabt haben. Die Aufregung der Amis ist für ihn wieder einmal die Bestätigung dafür, wie schön seine Heimat ist, besonders, wenn man sie von der Aufzugsplattform aus betrachtet. „Wer nicht hier oben war“, sagt Frank Deinert, „der war nicht in Schandau.“
Personenaufzug Bad Schandau: täglich in Betrieb von 9 bis 19 Uhr, ab Mai bis 20 Uhr; Einzelfahrt 1,80 €
(erm. 1,40 €), Hin- und Rückfahrt 2,80 € (erm. 2,20 €)