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Ben, der Aussteiger aus der Russenkaserne

In einer Ex-Kaserne der Roten Armee in Sachsen lebt Ben Green als Selbstversorger. Der Brite ist sich sicher: Die Welt wird untergehen.

Von Franziska Klemenz
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Er hofft nicht, dass seine Erwartungen eintreten und die Welt erodiert, sagt Ben Green. Aber er geht davon aus. „Wenn es so weit ist, öffne ich meine Türen für andere Menschen.“
Er hofft nicht, dass seine Erwartungen eintreten und die Welt erodiert, sagt Ben Green. Aber er geht davon aus. „Wenn es so weit ist, öffne ich meine Türen für andere Menschen.“ © Jürgen Lösel

Aus der Ferne beurteilt, könnte er gefährlich sein. Der Mann vor der Ruine mit der grimmigen Miene, dessen Haare sich noch wilder kräuseln als das Gestrüpp auf dem Gelände. Stacheldraht umschlingt ein schmuckloses Tor, bröckelnder Asphalt führt an einem Wachhaus ohne Wächter vorbei. Aus der Nähe wirkt Ben Green anders. Der Mund wirft Lachfalten ins Gesicht, die wachen, blauen Augen blicken freundlich in die Welt. Angekündigten Besuch empfängt der 47-Jährige eher selten, seit er ein verlassenes Kasernengelände in Sachsen, nahe der einst innerdeutschen Grenze kaufte. Ex-Soldaten kommen oft, um Erinnerungsrunden zu drehen. Für Green ist es das neue Zuhause. Sein Plan ist Selbstversorgung, sein Grund der Klimawandel.

Ein Jahr zuvor. Berlin, Zürich, Birmingham, ein Konzert von Beyoncé, Urlaub mit Meerblick, Eigentumswohnung, Schrebergarten. Das Leben von Ben Green wirkt auf seinem Instagramkanal @thepirateben auf bunte Weise bürgerlich gehoben. Erste Kasernenfotos postet der Brite im Januar 2019, bald welche von Kartoffeln, Bohnen, Erde, Werkzeug. Der Übergang vom Städter zum Aussteiger verläuft fließend, aber zielgerichtet. Ist Greens Geschichte die eines Workaholics, der plötzlich Moral und Grenzen entdeckt, einen Burn-out erleidet und fortan ein anders leben führen will?

Die Zivilisation ist schätzungsweise siebzig Mal so weit entfernt, wie menschliche Rufe hallen könnten. In einem Eimer vor der Eingangstür schmilzt eine Eisscholle vor sich hin. Nur zufälligerweise ein Sinnbild des Klimawandels, eigentlich der Rest einer frostigen Nacht. Green bittet auf einen Kaffee in sein Apartment, den einzigen Teil der einstigen Kaserne, den er bewohnt. Früher speisten hier Soldaten, heute Green. Bislang vor allem Kartoffeln.

Verbogene Fenster mit rissigem Lack reihen sich entlang der viereinhalb Meter hohen Front, milchig-trübes Licht beleuchtet Muster-Teppiche, Umzugskartons, Bücherstapel. „Ich habe eine sehr gute Idee davon, wie jedes Stück auf dem Gelände aussehen soll“, sagt Green, der britische Akzent begleitet seine Worte. „Das dauert zehn Jahre. Aber es ist ja auch mein Lebensprojekt.“ Aus selbst gefällten Bäumen will er eine Veranda bauen, eine Sauna, bald das Dixi-Klo mit einem Bad ersetzen.

Würden ein Loft und die Besenkammer eines Piratenschiffs sich paaren, es käme dieser Saal heraus. Gemälde zieren die Wände, ein weißer Flügel mit einem Stapel Weihnachtslieder-Noten prangt in der Mitte, eine rote Chaiselongue vor dem Fenster. Dazwischen Unrat, Krümel und Staub. Neben dem Ofen lagern Stücke zersägter Paletten, wenigstens in einer Ecke will Green es etwas wärmer haben. Löcher in Böden und Fenstern erschweren das Heizen.

Von den 1970ern bis zur Wende diente auf dem Gelände eine Grenzkompanie, später wurde daraus ein Heim für Geflüchtete. Seit 2009 gehört es Privateigentümern.
Von den 1970ern bis zur Wende diente auf dem Gelände eine Grenzkompanie, später wurde daraus ein Heim für Geflüchtete. Seit 2009 gehört es Privateigentümern. © Jürgen Lösel

„Wenn alles wärmer wird, sollte man an einem möglichst kalten Ort sein. Das ist ein Grund für die Gegend. Noch nicht dieses Jahr vielleicht, weil es einfach sehr kalt ist, aber im Grunde ist es ein Vorteil.“ Von der Züricher Altbauwohnung mit gut bezahltem Job als Informatiker in einen löchrigen Ruinen-Kühlschrank? „Ich habe kein bürgerliches, gut bezahltes Leben aufgegeben, um das hier zu machen. Ich habe es dafür angefangen. Mir ist seit den 1980ern klar, dass wir fucked sind. Seitdem habe ich den Traum.“ Nach Zürich sei er gezogen, um dafür mehr Geld zu verdienen.

Der Traum resultiert aus bitteren Erkenntnissen. 2050, sagt Green, sei alles weg, „was wir als Gesellschaft kennen“. 1,5 Grad Erderwärmung seien durch bisher ausgestoßenes Kohlendioxid gewiss, es würden drei bis fünf daraus. „Wissenschaftler haben nie gesagt: Ist doch nicht so schlimm. Es heißt immer: Wir haben es unterschätzt.“ Während Green vom Untergang erzählt, hält er ständigen Blickkontakt, hockt mit der Tasse in der Hand im Schneidersitz vor seinem Ofen, wippt vor und zurück, kichert nach mancher Bemerkung. Wie kann er kichern, wenn die Welt untergeht?

„Wenn man sich so lange mit etwas beschäftigt hat, kann man nicht deprimiert sein. Man hat es akzeptiert. Du setzt einen politischen Willen nur mit Geld durch, deswegen werden die Leute das Klima nicht retten. Sie werden ihre Lebensart erst ändern, wenn sie müssen, und dann ist es zu spät.“ Ist Panik angebracht? „Wahrscheinlich nicht“, sagt er nüchtern. „Normale Leute können Panik nicht gut verarbeiten.“ Einem autistischen Menschen Hoffnung zu geben, sagt er über Greta Thunberg und vielleicht auch ein wenig über sich selbst, sei schwierig. „Sie sehen die Welt, wie sie ist.“ Aber ist Hoffnung nicht ein Grundpfeiler menschlichen Seins? „Zerstörung auch.“ Green gluckst. Er hüpft aus der Hocke in den Stand, zum Klavier, streicht mit den Fingern bis zur höchsten und bis zur niedrigsten Oktave über die Tasten, lässt sich wieder auf den Boden fallen.

Überbleibsel auf dem Gelände.
Überbleibsel auf dem Gelände. © Jürgen Lösel

„In den nächsten Jahrzehnten wird durch den Klimawandel alles schlimmer. Menschen können alles überleben, wir sind erfinderisch und gut im Adaptieren. Ich will aber nicht in Städten ein Leben adaptieren, wo es immer schlimmer wird. Es geht nicht nur um Selbstversorgung. Ich will hier ein besseres Leben als die Städter haben.“ Jahrelang klickte Green sich durch deutsche Immobilienportale, gefiltert nach größten Grundstücken und niedrigsten Preisen. Die Ex-Kaserne in Sachsen belegte Platz eins. „Das Angebot an alten Kasernen ist schon niedrig, die Nachfrage noch viel niedriger. Niemand will so etwas haben.“

Fünfeinhalb Hektar zu einem Preis, den Green nicht verrät. Auch der Ort soll nicht in der Zeitung stehen. Das offizielle Startgebot lag bei rund 130.000 Euro. „Die Gebäude sind schön und interessant, ich bin inzwischen begeistert, aber sie haben mich beim Kauf nicht interessiert. Ich wollte so viel Land wie möglich.“ Bronzene Locken mit weißen Strähnen hängen Green ins Gesicht. Während er redet, bindet er sie zusammen, lässt sie wieder fallen, rollt Schrauben auf dem Boden aneinander. Unbewegt sitzt er nie. „Ich war überrascht, als ich das gekauft habe, fand es total schräg. Meine Kinder waren wenig überrascht. Eine Freundin meiner Tochter sagte: Das ist das Typischste für deinen Dad, was er je getan hat.“

Seit dem Frühling lebt Green hier, noch muss der Veganer ein paar Dinge zukaufen: Kaffee und Tofu, Brot, Müsli und Tabak. Andere Menschen sagen, dass man fünf Jahre braucht, um sich selbst zu versorgen. Er will es in zwei schaffen. Das sieht sein Finanzplan vor, außerdem Geld für das Studium seiner beiden Töchter und für Anschaffungen wie den Ofen oder Werkzeug. „Ich habe mir nie ausgerechnet, wie viel ich genau brauche. Das wäre nicht mein Stil.“ Für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland hat der Brite gesorgt, für den Fall des Brexits einen Einbürgerungstest absolviert.

Im Gewächshaus könnte es besser aussehen.
Im Gewächshaus könnte es besser aussehen. © Jürgen Lösel

Ben Green marschiert in den Garten. Neben einem 800 Quadratmeter großen Beet hat er ein Gewächshaus aufgestellt, eine Tabakpflanze trocknet hängend vor sich hin. Aus Holzstämmen hat er Rahmen für Komposthaufen gebaut, Kuh- und Schafmist düngen die Pflanzen. „Meine Aufgaben sind jetzt, den Boden zu bereiten und Insekten glücklich zu machen.“ Die anderen Aufgaben überlegt er sich morgens, nach dem Yoga und dem Kaffee. „Ich hab wahnsinnig viel zu tun, war aber überrascht, wie viel man an einem Tag schafft, wenn man nichts anderes mehr macht.“

Greens Weg führt an einer Wiese entlang, die vielleicht bald Weinreben beherbergen soll. Im Wald teilen sich Pilze in Korallenform den Moosboden mit Jung-Tannen, die erste, zarte Nadelärmchen von sich strecken. Der Boden wird weicher, der Klang der Schritte glitschiger, als Wald in Sumpf übergeht. Am ersten Weihnachtsfeiertag wolle er in den See springen, wie es sich als Brite gehört, sagt Green und meint es wahrscheinlich ernst. Ein Fliegenpilz-Teppich habe im Sommer den Weiher dekoriert, erzählt er dann und liest das zerbrochene Gebiss eines Wildschweins auf. Wilde Tiere besuchen sein Gelände häufig.

Spuren des Militärs sind geblieben, gruselig findet Ben Green die Vorstellung nicht. Wo genau sich das Gelände befindet, soll nicht in der Zeitung stehen.
Spuren des Militärs sind geblieben, gruselig findet Ben Green die Vorstellung nicht. Wo genau sich das Gelände befindet, soll nicht in der Zeitung stehen. © Jürgen Lösel

England hat Green verlassen, um Chemie und Geologie zu studieren, in Schottland. Danach wohnte er in fünf weiteren Ländern. Zu Hause habe er sich nie gefühlt. „Hier fühle ich mich erstaunlicherweise zum ersten Mal angekommen. Der Boden und ich, wir fühlen uns wie eins an. Und wenn es Nacht ist, dann ist es schwarz. Es ist so dunkel, so schön, du kannst die Sterne gespiegelt im Fenster sehen.“

Auf die Frage, ob er gerne mit Gefährten auf dem Gelände leben würde, zögert Green. „Verschwörungsterroristen und Hippies sind nicht gewollt. Ich mag meine Ruhe, ich bin kein einfacher Mensch, wenn man zu viel Zeit mit mir verbringt. Der richtige Mensch darf mir nicht zu ähnlich sein. Zwei von mir, das braucht die Welt nicht.“ Dass nicht viel mehr Menschen seine Entscheidung träfen, sei merkwürdig. „Aber vielleicht ist etwas Autistisches darin, dass ich die Daten so lesen kann. Es ist mir alles klar.“ Manchmal frage Green sich, ob er selbst „ein Verschwörungsterrorist“, ein Verrückter sei. „Aber ich habe etwas, was die anderen von dieser Sorte nicht haben: Ich habe die Wissenschaft auf meiner Seite.“ Ob es ein glückliches Leben ist? „Glück und Bequemlichkeit sind seltsame Vorhaben, keine dauerhaften Dinge. Wenn man danach strebt, ist man enttäuscht, wenn das Rad sich weiterdreht. Schon als Kind fand ich die Frage ‚Bist du glücklich?‘ seltsam. Es ist doch viel wichtiger, was ich in meinem Leben mache und erreiche.“

Die Kaserne mitten im Grünen
Die Kaserne mitten im Grünen © Jürgen Lösel

Green stapft aus der Wildnis zur Kaserne. Zwei zwiebelschmalzfarbene Riegel rahmen seine Wohnung. In den Fensterrahmen der leer stehenden Gebäude wechseln sich Stickgardinen mit Gitterstäben ab, im Keller eröffnet eine Schiebetür den Blick auf einstige Arrestzellen. Bis zur Wende nutzte die Grenzkompanie die Gebäude, danach dienten sie als Heim für Geflüchtete. Seltsam findet Green es nicht, auf einem Gelände mit dieser Vorgeschichte zu leben. „Ich glaube nicht, dass hier böse Dinge passiert sind.“ Im Internet taucht das Gelände unter anderem auf den Seiten von Militär-Nostalgikern auf, der Voreigentümer soll Waffenfan gewesen sein, Treffen Gleichgesinnter zugelassen haben. Green will mit derlei Erinnerungskultur nichts zu tun haben.

Zwischen Gebäuderiegeln und Eingangstor hat er Beeren und Obst angepflanzt, manche mag er lieber als andere. „Erdbeeren sind laut und schreien: Nimm mich, guck meinen prallen Körper an. Himbeeren sind kleiner, zurückhaltend, sympathischer.“ Ein Mini-Kirschbaum, der gerade über die Grashalme ragt, zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. „Oh hi, dich kannte ich noch gar nicht.“ Hunderte Sorten will er eines Tages an Obst, Gemüse, Kräutern halten. Wenn die Supermarkt-Regale längst karg sein werden, wie er glaubt.

Am Nachmittag fährt Green zu einem Bekannten, der ihn um Hilfe bei Waldarbeiten bat. Dank der Bürgermeisterin kennt er das ganze Dorf. „Es macht mich stolz, dass ich schon Teil dieses Lebens bin und gefragt werde. Die freundlichen Menschen sind auch ein Grund, hier zu wohnen.“ Ganz ohne Gesellschaft will Green eben doch nicht. Und irgendwann wird er sein neues Leben vielleicht auch wieder mit mehr Menschen teilen. „Wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, mache ich die Tür auf für alle, die ich liebe, einmal geliebt habe oder die herkommen wollen: Lebt mit mir, werdet glücklich. So was beschäftigt mich aber gar nicht. Ich habe zu viel Arbeit. Das ist sehr gut für die Seele.“