Der Mann mit dem koscheren Internet

Wie schwer muss eine Last sein, um sie mit aller Kraft loswerden zu wollen? „Sie muss so sehr auf dem Herzen drücken, dass man lieber Selbstmord begeht, als sie länger zu ertragen“, sagt Akiva Weingarten. Er ist ein tief gläubiger Mann. Der neue Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Dresden spricht vom eigenen Erleben.
Die Enge seines Lebens in einer ultraorthodoxen Gemeinschaft in New York ist ihm unerträglich geworden. Dahinein wurde er vor 34 Jahren als ältestes von elf Geschwistern geboren. Schläfenlocken und Kleidung wie vor 300 Jahren, Horizonte wie im Mittelalter. Weingarten findet deutliche Worte, wenn er das Wesen dieser weitgehend autonomen, religiösen Gesellschaft beschreibt. „Ab meinem fünften Lebensjahr habe ich die Bibel gelesen.“ Religionsunterricht stand im Mittelpunkt, nur etwa eine Stunde des Tages widmeten die Schüler der Mathematik oder Geschichte. Ab seinem 13. Lebensjahr habe er von sieben Uhr morgens bis 22 Uhr am Abend religiöse Studien betrieben – Grundlage für ein Dasein fern der restlichen Welt. Mit der kam Akiva Weingarten nur durch gute Filter hindurch in Kontakt. „Wir hatten Handys und auch Internet. Koscheres Internet.“ Portale wie Google, Youtube, Instagram und Facebook sind gesperrt. Nutzen können die ultraorthodoxen Juden lediglich Websites des öffentlichen Nahverkehrs öffentlicher Einrichtungen oder Banken. „Ich habe selbst in einer Firma gearbeitet, die dafür zuständig war, das Internet zu kontrollieren“, erzählt der Rabbi. Wer eine Website durch die Schleuse zum koscheren Internet bringen möchte, kann das beantragen. Die Inhalte werden dann geprüft. „Aber das tun nur Frauen, weil sie gegebenenfalls nackte Frauen sehen dürfen, Männer nicht.“
Dass etwas nicht richtig ist mit diesem System, das spürte Akiva früh. „Aber Fragen zu stellen, ist streng verboten.“ Wer zweifelt oder gar kritisiert, gilt als ungläubig, sagt er. Skepsis bringt innere Einsamkeit. Der orthodoxe Rabbiner, Sänger und Komponist Schlomo Carlebach wurde Akivas heimlicher Held, ebenso der Zauberkünstler James Randi, der gegen jede Pseudowissenschaft zu Felde zog. Als
26-Jähriger beschloss Weingarten, aus der Beschränkung zu fliehen. Er ging nach Berlin, um an der Universität Potsdam zu studieren, und entschied sich für Judaistik. Doch wie fit für ein Studium in Deutschland ist jemand, der kaum Grundlagenwissen weltlicher Natur mitbringt? „Es gab dort eine vorbereitende Klasse, die eigentlich für Geflüchtete gedacht ist“, erzählt Weingarten. Dort bekam er Unterricht in Deutsch und Geschichte, lernte alles übers Grundgesetz und erhielt vorbereitendes Fachwissen für sein künftiges Studium. Letzteres war für ihn eher unnötig, gehörte aber zum Kanon.
„Anfangs in Berlin habe ich die Nähe von Fenstern gemieden“, gesteht Akiva Weingarten. Er vertraute sich selbst nicht, hatte Angst, er könnte einfach in den Tod springen. „Ich bin ein sehr optimistischer Mensch. Aber die erste Zeit war schwer.“ Dass seine Eltern ihm nach seinem Ausstieg gewogen geblieben sind, darüber ist er glücklich. Mit Verständnis habe das jedoch nichts zu tun. „Es geht ihnen um Humanität.“ Ihre Liebe übersteigt das Dogma. Nicht alle Verwandten haben so reagiert. „Aber wir sind eine riesengroße Familie, das Telefonbuch mit all ihren Kontakten ist drei Zentimeter dick.“ Da komme es auf den einen oder anderen Verlust nicht an.
Akiva Weingarten ist nicht allein. Rund zehn Prozent aller Schulabgänger verlassen die ultraorthodoxe Glaubensgemeinschaft, aus der er stammt. Frauen seien kaum darunter. Ihre Erziehung ist noch strenger, ihre Lebenswelt noch beschränkter. „Sie werden ausgebildet, um gute Ehefrauen zu sein.“
Er sei schon immer ein selbstständiger Geist gewesen, einer, der auch andere ermuntern will: „Man muss jungen Menschen das Denken lehren, nicht, was sie zu denken haben“, sagt er. Sein Vorname Akiva hat eine besondere Bedeutung: Er ist die Abkürzung eines Satzes aus dem Schriftwerk Talmud. Er bedeutet: Man kann sich die ganze Welt erobern, in nur einer Stunde – wenn man es nur stark genug will.