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Der Meister vom Stuhl zündet Raketen

Horst Wagner lacht herzerfrischend, als er eine Geschichte erzählt: Keine hundert Jahre soll es her sein, ja nicht mal zwei Jahrzehnte seien vergangen, als es sich zugetragen habe, dass ein Geistlicher...

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Von Ulrike Körber

Horst Wagner lacht herzerfrischend, als er eine Geschichte erzählt: Keine hundert Jahre soll es her sein, ja nicht mal zwei Jahrzehnte seien vergangen, als es sich zugetragen habe, dass ein Geistlicher sehr aufgeregt rief: „Das können nur die Freimaurer gewesen sein.“ Eine Hostie soll er nach dem Gottesdienst in seiner Kirche gefunden und daraufhin gesagt haben: „Erst lassen die sich einen Leib Christi geben, und dann zertreten sie ihn in der Kirchenbank.“ Wagner schüttelt sich. „Das sind so Anekdoten über uns. Es gibt die wildesten Gerüchte.“ Wieder kichert er. „Angeblich sollen wir keine Schatten werfen, Jungfrauen opfern, den Teufel anbeten.“ Das habe er in Meißen gehört? „Nein, nicht hier, auf keinen Fall. Woanders her.“ In Meißen schauen ihn manche Zeitgenossen nur mit großen Augen an und trauen sich kaum zu fragen, was denn ein Freimaurer überhaupt sei.

Alltagssorgen sind für ihn nur pillepalle

Horst Wagner ist 41 Jahre alt, hat in Bayern Flugzeuge repariert und ist in Meißen der Meister vom Stuhl. „Der Chef der Loge also.“ Mit 31 Jahren wurde er Freimaurer, kurz nachdem der gebürtige Schwabe in die Porzellanstadt gezogen war. Die Loge zog ihn allerdings nicht hierher. Es war eine Frau. Die hat er inzwischen nicht mehr. Dafür aber seine 15 Brüder in der Loge, mit denen er über Philosophie, Religion und anderes diskutiert. Seit 1993, der Wiedergründung der alten Loge, gehört er dazu. Vom Lehrling über den Gesellen bis zum Meister hat er es bei den Freimaurern gebracht.

Warum es denn die Loge sein musste, um sich auszutauschen, wo Wagner doch einen Diskutierclub hätte gründen können? „Das ist eine lange Geschichte, und sie hat etwas mit meiner Vergangenheit und der Freimaurerhistorie zu tun.“ Zweierlei habe ihn zur Loge gezogen. Die Lebensphilosophie der Freimaurer und ihre Tradition. „Nach zwölf Jahren Religionslehre habe ich Ersatz gesucht.“ Schon Ende der 80er Jahre suchte er Kontakt zu Ulmer Freimaurern, fand ihn aber nicht. In Meißen hat es geklappt. „Es ist ihre Einstellung, die mich zu ihnen zieht.“ Tugenden wie Verschwiegenheit, geradliniges Verhalten und Aufrichtigkeit. „Kurz, das Ziel, sich geistig zu vervollkommnen.“ Es reizen ihn aber auch die Themen, die ohne weltanschaulichen Anstrich von den Brüdern diskutiert werden. Wagner selber hielt einmal ein Referat über das Maß und die Weisheit, die Lebenszeit einzuteilen.

Die Loge mit ihren Ritualen und Symbolen hat es ihm angetan, weil sich hinter jedem Zeichen eine Philosophie verberge, die nicht „in irgendeiner Fibel erklärt wird und deren Bedeutung für immer feststeht, sondern die sich jedes Mitglied immer wieder erschließen muss“, sagt er. So bleibe der Geist fit. Auch gebe die Loge ihm Sicherheit. „Natürlich könnte ich für mich herumphilosophieren und lesen, was das Zeug hält. Doch irgendwann zeifelt jeder an sich und braucht eine Bestätigung, dass das, was er denkt, nicht falsch sein kann.“

In den zehn Jahren Freimaurerei sei Wagner gelassen geworden. Das viele Nachdenken und Reden über Weltzusammenhänge und Religionsgeschichte haben ihn Abstand gewinnen lassen zum Alltagskram. „Haben mich früher Kleinigkeiten wie Preiserhöhungen oder falsch abgestellte Werkzeuge gestört, ist das heute für mich nur pillepalle.“ Und so gibt sich Wagner auch. Ruhig ist er, selbst wenn der Loge das Geld ausgeht, um die Flutschäden im Haus auf der Leipziger Straße zu reparieren. „Es wird schon“, sagt er und stemmt die Hände in die Seiten, wenn er sich das Chaos im Gebäude betrachtet. „Es wird schon, Stück für Stück. Manche halten mich für verrückt, wenn sie sehen, wie ich in dem Haus ackere.“ Es ist sein Hobby. „Mehr als das.“

In seiner Freizeit zündet er Feuerwerke

Fasziniert ist Wagner vor allem von dem alten Tempelraum, der einer der wenigen originalen in Deutschland sei und aus den Gründungsjahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts stamme. „Vor kurzem war ein Mathematiker aus München hier. Er beschäftigte sich mit dem gemalten Sternenhimmel und hat herausgefunden, dass er genau die Sternenkonstellation über Meißen am 24. Juni zeigt.“ Das Himmelsbild, das am Johannestag zu sehen ist. Johannes ist der Schutzpatron der Freimaurer. Momentan steckt Wagner alle Kraft und Zeit in den Logenbau. Bis Juni war er Fluthelfer bei der Stadt, davor hat er bis Juli 2002 in der Firma Meißen Maschinenbau gearbeitet. Jetzt wartet er darauf, dass das Unternehmen ihn wieder einstellt, weil eine andere Produktionsstrecke in Betrieb genommen werden soll. Lesen, diskutieren und bauen, das ist Wagners Leben. Aber es gibt noch eine Seite an ihm: „In meiner freien Zeit bin ich Pyrotechniker, gestalte Feuerwerke.“ Da könne er kreativ sein. Warum er nicht male oder bastle? Weil er es im Gegensatz zu seinem stillen Leben an den Wochenenden so richtig krachen lassen kann.