Von Manfred Müller
Manchmal erlegt er einen Hirsch, manchmal sogar einen furchterregenden Grizzlybären. Aber auch Spechte, Eichhörnchen und Fische sind vor Hagen Gebel nicht sicher. Allerdings nur, wenn sie aus Schaumstoff bestehen. Der 55-jährige Steinmetzmeister aus Ortrand schießt mit einem Recurvebogen auf Tierattrappen. Die so genannte 3D-Bogenjagd ist eine Schießdisziplin, in der sogar Deutsche Meisterschaften ausgetragen werden.
Voriges Jahr hat Hagen Gebel mit zwei Teamkollegen im pfälzischen Hinzweiler einen fünften Platz erkämpft. Und das, obwohl er erst mit 49 Jahren das Bogenschießen für sich entdeckte. „Mein Nachbar hatte mich gebeten, ihn mal zum Bogentraining nach Friedewald zu fahren“, erzählt er. „Dort durfte ich mal probieren, und es hat mich sofort gepackt.“ Während die Schützen längst gemütlich beisammensaßen, ließ Gebel Pfeil für Pfeil von der Sehne schnellen. Irgendwann stand ein Trainer hinter ihm und sagte, dass er beachtliches Talent fürs Bogenschießen mitbringe. Seitdem lebt der Ortrander seine Faszination für den archaischen Sport aus. „Das ist wie eine Sucht“, sagt er. „Wenn du vorbeigeschossen hast, kannst du nicht aufhören bis der Pfeil endlich im Ziel steckt.“
Bogenschießen hat sich in den vergangenen Jahren zum Trendsport entwickelt. Je nach Art des Schießgeräts und des Ziels gibt es unterschiedliche Sparten. Am weitesten verbreitet ist das Scheibenschießen mit Recurvebögen, an denen Zielvorrichtungen und Stabilisatoren angebaut sind. Der verwendete Bogen, der häufig als „olympischer Bogen“ bezeichnet wird, ist ein technologisch hoch entwickeltes Sportgerät, das genaue Treffer auf große Distanzen ermöglicht. Im Aufwind ist auch das traditionelle Schießen mit Bögen, an denen keinerlei technisches Zubehör angebracht ist. Neben dem Recurvebogen werden hier Langbögen, Reiterbögen und Primitiv-Bögen verwendet, die oft selbst gebaut sind. Häufig wird auf Parcours im Wald eine Jagd simuliert und auf Tierattrappen geschossen.
Hagen Gebel hat sich für die Bogenjagd entschieden. Manchmal stellt er seine Tierattrappen zum Trainieren auf dem Ortrander Fußballplatz auf, und schon bald sammeln sich Scharen von Zaungästen am Spielfeldrand. Ansonsten absolviert der Brandenburger seine Übungseinheiten beim Bogensportclub Friedewald. Für die Vereinskameraden ist er „dor Haachen“ aus dem Preußischen. „Ich war ein mittelprächtiger Tischtennisspieler, ein Fußballer mit technischen Grenzen“, sagt Hagen Gebel. „Mit dem Bogenschießen habe ich eine Sportart gefunden, in der ich richtig gut bin.“ Voriges Jahr veranstalteten die Friedewalder ihr „Wettinerturnier“ in den Kmehlener Bergen, da hat er sogar die Großen der deutschen Bogenjagdszene geschlagen.
Bogenschießen ist ein Sport, der nicht nur ein hohes Konzentrationsvermögen, sondern auch immense Kraftanstrengung verlangt. Zumindest, wenn man wie Hagen Gebel einen Bogen mit 55 Pfund Zuggewicht spannt. Bei einem solchen Gerät entwickeln die Pfeile eine gewaltige Durchschlagskraft. „Ich habe das an einer vier Zentimeter dicken Eichentür getestet“, erzählt der Ortrander. „Die Pfeilspitze kam locker auf der Rückseite durch.“
Da bekomme man ein Gefühl dafür, was für eine furchtbare Waffe der Bogen in historischer Zeit war. Römische Legionäre und englische Rittersöldner benutzten Bögen mit bis zu 110 Pfund Zuggewicht. Die Pfeile durchschlugen jede Rüstung. Beim Zielen bevorzugt Gebel die intuitive Methode, die bereits von den mittelalterlichen Kriegern angewandt wurde. Er verzichtet auf ein Visier und versucht, den Bogen quasi mit Körper und Geist zu verschmelzen. Entfernung, Zielhöhe und Windverhältnisse werden gefühlsmäßig berechnet, und das oft mit verblüffendem Erfolg. Wer auf die Pfeilspitze schaue habe schon verloren.
Die Folgen einer Bandscheibenoperation halten den Robin Hood von Ortrand derzeit davon ab, seinen Sport wettkampfmäßig zu betreiben. Umso intensiver beschäftigt er sich mit den technischen Feinheiten des Bogenbaus und mit der Historie des Bogenschießens. Wer heute den Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen streckt, erklärt Hagen Gebel, imitiere eigentlich eine Geste der englischen Langbogenschützen. Im Hundertjährigen Krieg pflegten die Franzosen ihren gefangenen Gegnern die beiden Finger abzuschneiden, damit sie nie mehr eine Bogensehne spannen konnten. Wer die Glieder noch vorzeigen konnte, war der Gefangennahme bisher entgangen und mithin ein cleverer Bursche.