Der Praktiker verlässt die Kanzel

Riesa. Den Trinitatisfriedhof wird er vermissen. "Der Friedhof ist ein Ort der Stille und der inneren Einkehr, an dem wir den Fragen nach dem Sinn unseres Lebens und Sterbens nachgehen können. Außerdem ist er eine fantastische Parkanlage. Es gibt nur ganz wenige Orte in Riesa, wo so viele Vögel und Insekten zu finden sind", sagt Gunter Odrich. Das sei auch den fleißigen Friedhofshelfern mit ihrem grünen Daumen zu verdanken. Das sagt der 63-Jährige nicht nur, weil er hier die letzten sieben Jahre Pfarrer war und es von ihm erwartet wird, sondern weil es seine ehrliche Meinung ist.
Ein paar der Namen, die hier auf den Grabsteinen stehen, kennt er. Die meisten allerdings nicht. Das ist in einer Stadt wie Riesa nicht verwunderlich. Hier ist vieles anonymer, unpersönlicher. Sieben Jahre Pfarrdienst in Riesa waren eine sehr intensive Zeit mit vielen Herausforderungen. Mit Strehla wurde ein Schwesterkirchverhältnis begründet. Die Gemeinden im Süden um Stauchitz herum kamen als Arbeitsfeld dazu. Pfarrer Odrich hat vier Konfirmandenkurse und drei Erwachsenentaufkurse begleitet. Viele Flüchtlinge und Asylbewerber suchten in den letzten Jahren die Hilfe der Kirchgemeinde. Neben den vielen Gottesdiensten, Taufen, Konfirmationen, Jubelkonfirmationen waren 25 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit und natürlich auch der Tag der Sachsen in Riesa im vergangenen Jahr Höhepunkte im Gemeindeleben. Jetzt macht Pfarrer Odrich von der Möglichkeit des Vorruhestandes Gebrauch, weil im vergangen Jahr gute Freunde und Wegbegleiter in seinem Alter gestorben sind. Das hat den Pfarrer daran erinnert, dass außer der Arbeit noch andere Dinge im Leben wichtig sind.
Zehn Jahre soll ein Pfarrer an einem Ort bleiben und dann weiterziehen. Im Frühjahr 2013 zog Gunter Odrich mit seiner Familie nach Riesa. Zuvor war er zehn Jahre Pfarrer in Graupa bei Pirna. Doch die meiste Zeit seines Berufslebens verbrachte er in Polditz. Das ist ein kleines Dorf bei Leisnig. "Dort leben nur hundert Leute, aber es gibt eine Kirche mit tausend Plätzen", erzählt er.

Bei jedem Gedanken an seine erste Pfarrstelle blüht Gunter Odrich auf. 18 Jahre vergisst man nicht so schnell. Frisch von der Uni kam er 1984 nach Polditz. Der Bauernsohn, der selbst aus einem Dorf bei Oschatz stammt, fühlte sich dort wohl. Noch heute ist er ab und zu in Polditz. Die Verbindungen sind nie abgebrochen, auch weil er dort einen Verein zur Erhaltung der Ladegast-Orgel gegründet hat und noch immer Mitglied ist. "Da hängt mein Herzblut dran", gibt Odrich gerne zu.
Die Sympathien der Polditzer hat er sich wohl auch durch sein handwerkliches Geschick erworben. Odrich hat im Fritz-Heckert-Kombinat Maschinenbauer gelernt. Er besitzt einen Kranbedienungsschein, einen Elektrikerschein und einen Schweißer-Pass. "Das sind praktische Erfahrungen, die man auch als Pfarrer gut verwenden kann", sagt er. Erst recht zu DDR-Zeiten, als viele Kirchen noch marode waren und mit wenig finanziellen Mitteln erhalten wurden.
In der Kirche selbst Kabel verlegt
So habe er die Elektrik in der Polditzer Kirche konzipiert und auch manches Kabel selbst verlegt. Das ist heutzutage undenkbar, weil alle baulichen Dinge in Kirchen von Fachfirmen ausgeführt werden müssen, sonst gibt es keine Fördermittel "Die Elektrik in der Polditzer Kirche funktioniert noch heute", schmunzelt der Pfarrer genüsslich. "Überhaupt war das selbst mit Anpacken für die Leute wichtiger, als dass meine Predigt hundertprozentig theologisch korrekt war."
Jedes Jahr findet in der Polditzer Kirche eine Orgelwoche statt und zieht mehr als 2.000 Besucher an. Und das in einem Dorf mit hundert Einwohnern! "Dieses Jahr muss die Orgelwoche leider ausfallen - wegen Corona", sagt Odrich traurig. Es wäre die 24. Orgelwoche in Polditz gewesen. Vielleicht kann da im nächsten Jahr das 25-jährige Jubiläum besonders gestaltet werden, um den Ausfall in diesem Jahr zu kompensieren.

Zum Thema Corona hat er seine eigene Meinung. "Jeden Tag sterben weltweit 40.000 Kinder an Hunger. Welche Maßnahmen werden da ergriffen", fragt Odrich. Auch die Dürre in den letzten zwei Jahren hält er für viel schlimmer als die Virus-Pandemie. "Da hat die Natur noch Jahrzehnte zu tun, sich davon zu erholen", sagt er und weiß, dass er sich mit solchen Aussagen nicht nur Freunde macht.
Aber er ist es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Man könnte fast meinen, dass das seine Lebensmaxime ist. Schon zu DDR-Zeiten hat er auf dem Klavier das Deutschlandlied gespielt und war angeeckt. Immerhin hat er damit ein Mädchen beeindruckt, mit dem er jetzt über 40 Jahren verheiratet ist.
Gunter Odrich hat auch nach der Wende das ausgesprochen, was er denkt und wovon er überzeugt ist. "Unseren ganzen Reichtum haben andere erarbeitet", sagt er. Solche unbequemen Wahrheiten hat er als Pfarrer auch von der Kanzel gepredigt. Seine Großmutter habe immer gesagt: "Reich ist nicht der, der viel hat, sondern der wenig braucht. So halten wir es auch in unserer Familie." Sie stärkt ihm, gibt ihm Kraft. In Corona- oder anderen Zeiten.
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