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Deutsche Einheit gab es nie

Dresdens Militärhistorisches Museum zeigt, wie 1871 das Kaiserreich entstand – und um welchen Preis.

Von Oliver Reinhard
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Theodor von Götz malte im Jahr 1878 „Das Königlich Sächsische 2. Jäger-Bataillon Nr. 13 in der Schlacht bei Sedan am 1. September 1870“.
Theodor von Götz malte im Jahr 1878 „Das Königlich Sächsische 2. Jäger-Bataillon Nr. 13 in der Schlacht bei Sedan am 1. September 1870“. © MHM/Andrea Ulke

Dass der Krieg Vater aller Dinge sei, stimmte schon zu Zeiten des Zitatgebers Heraklit nicht. Aber auch 2.500 Jahre später muss man einräumen: Der Krieg ist nicht Vater aller, doch so einiger Dinge. In gewisser Hinsicht sogar der Ururgroßvater des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Denn das Kasernengelände, das es beherbergt, wurde durch Reparationszahlungen der Franzosen nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 gegen Preußen ermöglicht. Insofern scheint es gleich doppelt sinnig, wenn hier am Donnerstag die Ausstellung „Krieg Macht Nation“ eröffnet, die um eben jenen Konflikt kreist, ermöglicht auch durch französische Leihgeber.

Ihr Radius ist recht weit gefasst, von der deutschen Revolution 1848/49 bis streng genommen in die Gegenwart. Der Prozess des deutschen Nation Building entwickelte sich nicht nur aus einer ideellen Sehnsucht nach nationaler Einheit zwischen damals bereits geeinten Nachbarn wie Österreich, Frankreich, England, Dänemark: Vor allem Zoll-, Währungs- und Rechtsgrenzen erschwerten den Fortschritt und damit die Entwicklung der deutschen Vielstaaterei zu einem modernen Staatswesen.

Kein kollektiver Nationaltaumel

Ebenso zeigt der Blick 150 Jahre zurück: Die heute wieder von interessierten Seiten viel beschworene Homogenität eines deutschen Volkes samt seiner Kultur hat es nur in der Fantasie traditionalistischer Nostalgiker gegeben. „Auch das Deutsche Reich, das durch den Krieg 1871 entstand, war immer ein sehr heterogenes und vielfältiges Gebilde“, sagt die Kunsthistorikerin Katja Protte. „Es ging immer um Aushalten und Auskämpfen.“ Ebenso falsch ist die Vorstellung, die Deutschen seien damals in einen kollektiven Nationaltaumel verfallen. „Es gab im Gegenteil sehr viele, die überhaupt keine Lust hatten auf die Preußen und eine von ihnen dominierte Nation“, ergänzt der Historiker Gerhard Bauer, der zusammen mit Protte die Schau kuratiert hat.

Wer sie betritt, blickt zuerst gen Dänemark, auf das Schlachtengemälde „Die Erstürmung der Düppeler Schanze Nr. II“ im Krieg gegen Preußen 1864, entstanden kurz darauf von Wilhelm Camphausen. Ein ganzes Spalier solcher Bilddarstellungen umstellt den zentralen Ausstellungsbereich im Arsenalgebäude, die Sachsen bei Sedan 1870, die Preußen bei Königgrätz 1866 – die Reichsbildung war letztlich ein Resultat aus allein drei internationalen Kriegen -, aber auch Adolph Menzels „Der sterbende Soldat“. „Es kam in jener Zeit zu einer Zunahme von Darstellungen, die das vorherrschende Bild des bunten, heroischen Kampfes konterkarierten und auch die Schrecken zeigten, selbst Opfer aus den eigenen Reihen“, sagt Katja Protte; der Krieg war und ist eben auch Totengräber vieler Dinge.

Wenige Exponate, viel Denkraum

Doch im Kernbereich illustriert die Ausstellung zunächst, wie sehr er den Fortschritt vorangetrieben hat. Natürlich die Kampftechnologie, aber auch ein modernes Pressewesen, Telegrafie, medizinische Versorgung sowie die Bildung der ersten Organisation, die sich um Verwundete aller Seiten gekümmert hat; das Internationale Rote Kreuz. Besonders wichtig ist Protte und Bauer der Verweis drauf, wie breit das Spektrum jener war, die sich am Nation Building beteiligten: Industrielle wie Alfred Krupp und Werner von Siemens ebenso wie der linksliberale Mediziner Rudolf Virchow und, in Dresden besonders herausgehoben, August Bebel. „Nicht nur Monarchisten und das Bürgertum waren die großen Player“, sagt Katja Protte. Tatsächlich war die Idee vom Krieg als Mittel zu nationaler Einheit (samt der Idee des Militärischen als prägendes Prinzip einer Gesellschaft) und zugleich zu mehr demokratischer Teilhabe vor allem im liberalen Bürgertum weit verbreitet. „Nach der Reichsgründung kam es dann auch zu einer Hochzeit des Parlamentarismus“, so die Kuratorin. „Auf einmal konnten Demokraten den Haushalt mitbestimmen – für Monarchisten natürlich eine Katastrophe“. Der prominenteste Verweis auf das Ausmaß der „Player“-Heterogenität: eine Erstausgabe des Kommunistischen Manifests aus dem Besitz von Walter Ulbricht.

So sehr sie den Blick weitet auf die Breite der Gesellschaft, auf die parallelen Entwicklungen in anderen Staaten wie Frankreich und Österreich und Italien, auf die Frauen und die aufkommende Suffragettenbewegung; so sehr setzt die Ausstellung im ersten Teil auf das didaktische Prinzip der klassischen, erzählerisch konkreten und streng an Exponaten ausgerichteten Vermittlung. Mit dem Übergang in Halle 28 aber verändert sie ihr Gesicht. Plötzlich zeigt „Krieg Macht Nation“, welch großes Potenzial und auch welchen Mut zu den großen narrativen Linien, zur Essayistik, zur assoziativen Ausrichtung das Museum seit seiner Neueröffnung vor fast neun Jahren entwickelt hat: Wenige Exponate, viel Raum für Gedankenbildung. Das Zentrum bildet eine Rekonstruktion des riesigen Panoramabildes „Die Erstürmung von St. Privat am 18. August 1870“, einer Szene, die Louis Braun 13 Jahre danach für Dresden gemalt hat. Sie zeigt jene Schlacht, in der vor allem sächsische Truppen den fast geschlagenen Preußen zu Hilfe kamen und das Kriegsblatt wendeten, eine Weiche zum Sieg über Frankreich und zur Bildung der Nation.

Selbsterhöhung und Ausgrenzung

Hintergrundiert wird das Panorama durch eine Wand mit Zitaten aus internationalen Vereinbarungen, die den Krieg „zivilisieren“ wollten. Etwa der Genfer Konvention, der Haager Landkriegsordnung, der UN-Charta. „Auch das entwickelte sich in dieser Zeit: der Wettlauf zwischen dem technologischen Fortschritt und den Versuchen, dessen kriegerische Folgen zu begrenzen“, so Katja Protte. Ebenso tief blieben die Gräben in einer zur Nation und damit auch nationalistischer gewordenen Gesellschaft. Kinderbücher mit grausamen Klischees über „den Feind“ waren da wirkungsmächtiger als Bücher wie Berta von Suttners „Die Waffen nieder“; die Ausstellung zeigt den Ausschnitt eines Stummfilms aus Dänemark. Dort besann man sich nach der Niederlage von 1864 übrigens auf das Motto „nach außen verloren, nach innen gewonnen“, führte nie wieder Kriege und entwickelte stattdessen den fortschrittlichsten Sozialstaat Europas.

Dass das Deutsche Reich einen anderen Weg ging, versinnbildlichen Begriffe in großen Wäschedrahtkörben: Antisemitismus, Sozialistengesetze, Kulturkampf, Kolonialismus, nationale Minderheiten. „Es gab keine wirklich unschuldigen Tendenzen der Nationenbildung“, sagt Protte. Das gilt auch für den Nationalismus: „Selbsterhöhung ging und geht immer einher mit der Abwertung der ,anderen‘.“ Was das für aktuelle nationalistische Rückbesinnungsversuche auf jene Zeit vor 150 Jahren bedeutet, stellen Gerhard Bauer, Katja Protte und Museumsleiter Armin Wagner im Vorwort des Ausstellungskataloges klar: „Die deutsche Reichseinigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts taugt nicht als Vorlage für die Gegenwart, ihrer muss nicht mehr weihevoll gedacht werden.“

Krieg Macht Nation: bis 31. Januar 2021 täglich außer Mittwoch von 10 bis 18 Uhr im Militärhistorischen Museum Dresden. Eintritt 5/3 Euro