Die fünf Corona-Lehren für den Herbst

Von Georg Ismar
Jens Spahn wird mal wieder ausgebuht und redet gegen Trillerpfeifen an. Es ist mutig, sich offen auf einer Bühne in Bottrop zu Fehlern zu bekennen. Dass er das würde tun müssen, hatte der Gesundheitsminister im April im Bundestag bereits vorausgeahnt: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Und so räumt er in Bottrop ein, mit dem heutigen Wissensstand würde man keine Friseure und Geschäfte schließen. Und keine Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen mehr verhängen. „Das wird nicht noch einmal passieren“, verspricht er. Zu den anfänglichen Versäumnissen und Fehlern gehörten auch die zunächst fehlenden Schutzmasken für Kliniken, Praxen und Heime, die überstürzten Schul- und Kitaschließungen und zu wenige Intensivbetten.
Der Auftritt des CDU-Politikers im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf unterstreicht den ständigen Lernprozess in einer Pandemie. Und die Lehren lassen Schlüsse für den Herbst zu, wenn sich das Geschehen wieder mehr in geschlossene Räume verlagert und die Infektionszahlen stark steigen könnten.
1. Kein Lockdown mehr
Das betonen Spahn wie Kanzlerin Angela Merkel. Der Hoffnungsträger hierbei sind die Masken; oberstes Ziel ist es, Schulen, Kitas und Geschäfte offen zu halten. Im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorquartal um rund zehn Prozent. In der Industrie, bei Dienstleistern und am Bau sind die Aussichten inzwischen deutlich besser, Auftragsbücher füllen sich wieder. Kommt es zu regionalen Ausbrüchen wie in der Fleischfabrik Tönnies und Werten von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen, sind im Rahmen der bundesweiten Hot-Spot-Strategie regionale Maßnahmen möglich: von Massen-Quarantäne bis zu Kontaktbeschränkungen und eingeschränkten Öffnungszeiten.
2. Quarantäne verschärft, aber kürzer
Das war der größte Fehler im Sommer. Erst wurden Reiserückkehrer an vielen Flughäfen kaum oder gar nicht kontrolliert, auch nicht die eigentlich geltende QuarantänePflicht bei der Rückkehr aus Risikogebieten. Es folgte eine Testpflicht. Inzwischen gelten über 160 Staaten ganz oder teilweise als Corona-Risikogebiet. Ab dem 15. September sollen die kostenlosen Tests für alle Rückkehrer an Flughäfen, Bahnhöfen und Autobahnraststätten bis auf jene in Bayern entfallen.
Möglichst ab 1. Oktober soll die Testpflicht für Rückkehrer aus Risikogebieten durch eine staatliche Quarantäne-Pflicht abgelöst werden – sie wird mindestens fünf Tage dauern, erst dann kann sie durch einen Corona-Test, der negativ ausfällt, beendet werden. Eine stärkere Digitalisierung der Daten und mehr Kontrolle durch die Gesundheitsämter sollen helfen, dass niemand durch das Kontrollnetz fällt. Der Charité-Virologe Christian Drosten sagte dazu im NDR-Podcast, die Quarantäne-Zeit solle man besser generell von 14 auf fünf Tage verkürzen. Man müsse größere Quarantänen so kurz wie möglich halten, gerade wenn ganze Schulen oder Unternehmen betroffen seien. Corona-Tests seien erst am Ende der Quarantäne sinnvoll.
3. Die Masken als Hoffnung
Die Engpässe bei den professionellen Schutzmasken führten im März und April zu einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Abnahmeverfahren. Teils dubiose Händler witterten das große Geschäft, kauften zu hohen Festpreisen mit satten Gewinnmargen in China Masken ein, um sie an Bund und Länder zu verkaufen. Weit über 50 Klagen gibt es wegen unbezahlter Rechnungen gegen das Gesundheitsministerium. Es geht um Forderungen in dreistelliger Millionenhöhe. Hinzu kam die verwirrende Kommunikation von Wissenschaft und Politik, ob Alltagsmasken helfen können. die Virus-Ausbreitung einzudämmen.
Was heute der große Hoffnungsträger zur Vermeidung neuer Lockdowns ist, wurde anfangs negiert. Nun sollen bundesweite Bußgelder von mindestens 50 Euro (bis auf Sachsen-Anhalt) gegen Maskenmuffel helfen. „Das ist sehr ichbezogen“, sagt Spahn zu den Verweigerern, die sich auf ihre persönliche Freiheit berufen. „Denn um einen herum sind möglicherweise Menschen, die nicht so fit sind, die vorerkrankt sind, die sich Sorgen machen.“ Charité-Virologe Drosten betont, dass sie kein Allheilmittel sind. Die feuchte Aussprache, größere Tröpfchen, würden abgefangen. Die Tröpfchen in der ausgeatmeten Aerosolluft seien dagegen so fein, „dass sie sich nicht in dem feinen Stoff einer schlecht sitzenden Maske fangen“. Der Fremd- und Selbstschutz existiere also nur eingeschränkt.
4. Bessere Vorbereitung
Den ersten Lockdown gab es, weil das Gesundheitssystem nicht wie in Italien kollabieren sollte. Die Zeit wurde genutzt, um hier viel mehr Kapazitäten zu schaffen. Derzeit sind bundesweit nur 227 akute Covid-19-Fälle in Behandlung, davon müssen 125 beatmet werden. Von 30.732 verfügbaren Intensivbetten sind 8.943 derzeit frei. Das bedeutet, es gibt ausreichend Kapazitäten. „Die Zahlen sind niedrig, das Gesundheitswesen kann damit umgehen“, betont der Gesundheitsminister. Operationen werden wieder ganz regulär durchgeführt, aber es gibt auch enorme Kosten durch leere Intensivbetten. Der Bund hatte in der Hochphase der Pandemie allen Krankenhäusern 50.000 Euro für jedes zusätzliche Intensivbett zugesagt.
5. Mehr Lockerheit wagen
Es wirkt wie ein Affront gegen Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die bis Ende Oktober keine Zuschauer in den Bundesligastadien sehen wollte: RB Leipzig will nach der Freigabe durch die Stadt zum Bundesliga-Auftakt am 20. September gegen den FSV Mainz 05 bis zu 8.500 Zuschauer (mit Maskenpflicht) zulassen. In Berlin sind wieder Veranstaltungen im Freien mit bis zu 5.000 Zuschauern möglich. Überall wird viel probiert, auch um Theater und Orchester zu retten. Und um den Rückhalt der Bürger zu sichern.
Bundesweit einheitliche Obergrenzen für private Feiern und Veranstaltungen sind wegen des unterschiedlichen Infektionsgeschehens nicht mehr durchsetzbar. Und um Gegnern der Corona-Maßnahmen nicht Auftrieb zu geben, haben Bund und Länder vor allem eines im Blick, gerade nach der juristischen Schlappe für den Berliner Senat bei dem Verbot der jüngsten Groß-Demo: Alle Maßnahmen müssen stets noch so verhältnismäßig sein, dass sie Gerichte nicht kippen.
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