Die Geheimnisse der Anzeigetafel

Schon hinter der ersten Tür riecht es nach Geschichte, leicht muffig, nach ollem Eisen, Staub und Technik. Direkt unterhalb der schwarzen Ergebnistafel befindet sich ein kleines Betonhäuschen – dort schlug das technische Herz der monumentalen Anzeige. Unmengen von Schaltplänen hängen an den Wänden. Vier blaue Schränke stehen eng nebeneinander an der Wand – hinter jeder der Türen verbergen sich Schalter, Sicherungen, Thyristoren, dicke Kabel – umgarnt von Spinnweben aller Art.
Wir sind drin, was an sich schon eine Überraschung ist. Denn dass die Anzeigetafel im Dresdner Heinz-Steyer-Stadion begehbar ist, war bisher öffentlich weniger bekannt. Wenn man direkt vor dem schwarzen Monstrum steht, erschlägt einen diese Wucht förmlich: 17,2 Meter breit und 8,28 Meter hoch, knapp zweieinhalb Meter tief. Seit 1978 steht sie in der Kurve gegenüber dem Marathon-Tor. Für die Errichtung der Ergebnistafel durch die ungarische Firma Elektroimpex Budapest hat man etwas mehr als eine Million DDR-Mark veranschlagt. Wie viel der Bau gekostet hat, lässt sich nicht mehr ermitteln.
Allerdings funktioniert das einstige Meisterwerk der Technik schon seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr. Es ist mit der Arena in die Jahre gekommen. Eindrucksvoll ist das Bauwerk dennoch. Das hat die Organisatoren des Leichtathletik-Jugendmeetings, das der Dresdner SC zum 100. Jubiläum des Stadions am Sonnabend ausrichtet, auf eine Idee gebracht: Führungen durch die Anzeigetafel. Kleine Gruppen zu je fünf Personen werden dort vom ehemaligen Mitarbeiter Gunter Noack einen Einblick in das Innenleben der geschichtsträchtigen Ergebniswand bekommen.
Die Glühlampen gingen aus
Die SZ bekam vorab schon die Möglichkeit, sich in der Konstruktion aus Beton, Stahl und Plastik umzuschauen. Auf den ersten Blick sieht das nach bescheidener Technik aus – 1970er-Jahre eben. Mit einem großen Eisenhebel wurde die Anzeigetafel an- und ausgeschaltet. „Ohne den ging gar nichts“, sagt Noack. Er arbeitete von 1982 bis 2018 fürs Sportstättenamt der Stadt.
21 Stufen führen auf einer mittlerweile rostigen Stahltreppe hinauf. Oben öffnet sich eine kleine Stahltür – und man steht gewissermaßen direkt hinter den unzähligen Lämpchen, die im Heinz-Steyer-Stadion einige Weltrekorde wie die von Ruth Fuchs im Speerwerfen 1979 und Heike Drechsler im Weitsprung 1986 angezeigt haben. Knapp 10 000 Glühlampen sind es gewesen, die jeweils in einer becherartigen Fassung steckten und nach außen mit einem Gitter vor Wind und Wetter geschützt waren. „Die Lampen waren besonders anfällig“, erklärt Noack.
Das Problem: Sie hatten eine ungewöhnliche Spannungsebene von 50 Volt. Diese besonderen Glühlampen waren wie vieles zu DDR-Zeiten Mangelware. Nach der Wiedervereinigung waren sie jedoch auch nicht zu bekommen. „Wir haben von unseren Vorräten noch eine ganze Weile überlebt“, sagt Noack. Die vom Hersteller mitgelieferten knapp 6 000 Ersatzlampen haben bis zur Jahrtausendwende gereicht.
Bei den Spielen der DSC-Fußballer in der Regionalliga flackerte die Anzeigetafel bis 2003 auf. Wann das Licht endgültig ausging, darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. „Wenn sich jemand mit Liebe beschäftigen würde“, erklärt Noack – und meint damit mit Zuneigung und Geld – „könnte man die Anzeigetafel wieder in Betrieb nehmen. Aber das würde niemand bezahlen“, meint der Ruheständler.
Im Zuge der schleichenden Modernisierung des Stadions – bis 2023 sind 32 Millionen Euro im Stadthaushalt eingestellt – soll das untüchtige Zeitdokument entsorgt werden. Wo eine oder mehrere moderne Varianten künftig stehen oder hängen werden, ist noch offen. In der alten Anzeigetafel sind alle Leitungen längst abgeschaltet. Der Innenraum wird mit einem vieretagigen Stahlgerüst gestützt. Der knapp zwölf Meter lange Gang ist mit Holzbalken ausgelegt. Da schlummern hinter den weißen Abdeckungen noch zahlreiche uralte Lämpchen. „Wenn der jeweilige Wettkampf lief, war die Tür zur Tafel verschlossen. Dort hat währenddessen niemand gearbeitet“, erzählt Noack. Angesteuert wurden die Signalempfänger nämlich von einem ganz anderen Ort.
Knapp 150 Meter Luftlinie entfernt versteckt sich im oberen Teil der alten Steintribüne eine Art Bürozeile aus weiß lackiertem Holz. Noack bezeichnet sie etwas despektierlich als „Schreibraum“. Man könnte das kleine Kämmerlein auch „Regie“ nennen. Da gaben bei den großen Wettkämpfen wie dem internationalen Leichtathletik-Meeting um das „Goldene Oval“ zwei Mitarbeiterinnen die Ergebnisse ein, die zwei bis drei Sekunden später an der Anzeigetafel aufleuchteten. Für die damaligen technischen Verhältnisse in den 1970er- und 1980er-Jahren muss sich das angefühlt haben, als wäre man Weltmarktführer. Die beiden Frauen tippten die Informationen, die ihnen per Gegensprechanlage von den Oberkampfrichtern weitergegeben wurden, per Bedienpult in den Rechner ein. Von dort konnte das Signal entweder direkt weitergeleitet werden oder zunächst an einen Lochstreifenstanzer. Das war ein gebräuchlicher Datenträger. Über ein Lesegerät wurden die Ergebnisse an die Wand übermittelt. Die Streifen wurden mit kleinen Wäscheklammern an eine Holzleiste gehängt.
Am Sonnabend wird Noack jeweils etwa eine halbe Stunde fünf Besucher durch die Anzeigetafel und den Schreibraum führen – und die eine oder andere Anekdote erzählen. Skandalöse Technikausfälle gehören freilich nicht dazu. „Bei den großen Wettkämpfen ist nie etwas passiert“, sagt Noack und schließt die Tür zum Schreibraum – bis zum Sonnabend und danach für immer. Die Steintribüne, wie die Anzeigetafel ein Stück Geschichte des Heinz-Steyer-Stadions, macht für eine moderne Variante Platz.
Exkursionen am Sonnabend, 18. Mai, 13.30, 14.30 und 15.30 Uhr. Treffpunkt ist jeweils an der Anzeigetafel.