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„Die goldenen Zeiten sind vorbei“

Thomas de Maizière sieht hohe finanzielle Belastungen durch die Pandemie und fordert eine Föderalismus-Überprüfung.

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Ex-Bundesinnenminister und Meißner Wahlkreisabgeordneter im Bundestag: Thomas de Maizière (66).
Ex-Bundesinnenminister und Meißner Wahlkreisabgeordneter im Bundestag: Thomas de Maizière (66). © Robert Michael

Herr de Maizière, wie geht es Ihnen jetzt?

Danke, persönlich geht es mir gut. Auch meiner Familie. Im Bekanntenkreis haben wir allerdings einige Corona-Fälle. Dieses Interview führen wir über eine Videokonferenz-Plattform. Ich hätte nie gedacht, dass man im Homeoffice so effektiv arbeiten kann.

Wie halten Sie Kontakt zu Ihren Kindern und zu Ihren Mitarbeitern?

Das klappt gut online und telefonisch, aber nichts ersetzt den persönlichen Kontakt, eine Umarmung, einen Blick. Dennoch können wir es uns gar nicht mehr vorstellen, eine solche Krise ohne das Internet zu bewältigen.

Wie nutzen Sie die plötzlichen Freiräume in Ihrem Terminkalender? Oder haben Sie gar keine?

Tatsächlich habe ich keine Freiräume. Die Arbeit hat sich nur verlagert. Alle Sitzungen finden per Videokonferenz statt. Die unzähligen parlamentarischen Abende in Berlin fallen hingegen alle aus. Und die vermisse ich überhaupt nicht.

Haben Sie Ihren neuen Job als Chef einer zehnköpfigen Reflexionsgruppe der NATO bereits angetreten?

Ja, die Staats- und Regierungschefs haben diese Gruppe berufen. Sie soll sich über die politische Strategie der NATO Gedanken machen und einen Vorschlag bis Ende des Jahres vorlegen. Ich bin Co-Vorsitzender. Die Arbeit läuft im Moment vor allem über Videokonferenzen, geht aber gut voran.

Sie sind schon zwei Jahre Vorsitzender der Telekom-Stiftung. Wie läuft das?

Wir möchten helfen, die Bildung in der digitalen Welt voranzubringen; die Kinder und Jugendlichen fit machen für die Zukunft mit all ihren Herausforderungen. Das ist gerade jetzt sehr wichtig. Hier hat es in der Coronakrise in wenigen Wochen mehr Fortschritte gegeben als in vielen Jahre zuvor.

Wie ist Ihr Kontakt zu Ihrem Wahlkreis, dem Landkreis Meißen?

Den halte ich natürlich trotz der momentanen Corona-Situation. Mich erreichen viele Bitten und Anfragen, die wir im Wahlkreis und in Berlin bearbeiten. Ergänzend habe ich auch einen Informationsservice entwickelt, um möglichst viele Bürger und Meinungsträger über die aktuellen Entwicklungen und Programme zu informieren. Mich bewegt sehr das Schicksal der Menschen, der Unternehmer wie z.B. der Gastwirte im Landkreis Meißen. Mich beeindruckt, wie sie kreativ versuchen durchzuhalten.

Die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona gelten in Sachsen jetzt die fünfte Woche. Die Rufe nach noch mehr Lockerung und Exit werden lauter. Wie sehen Sie das?

Die Fallzahlen in Sachsen sind zum Glück nicht so hoch wie in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. Deutschland insgesamt war bei den Maßnahmen zur Eindämmung der Krise nicht so streng wie die Italiener, Spanier und Österreicher. Es gab nur zwei Länder in Europa, die lockerer waren als wir: Schweden und die Niederlande und die schwenken gerade um. Mit unserem Kurs sind wir bisher gut gefahren, auch im internationalen Vergleich und haben den Ausbruch immer besser im Griff.

Diese Einschränkungen beschneiden massiv die Grundrechte. Das muss aufgewogen werden mit dem Infektionsschutz. Was wiegt auf Ihrer Sicht schwerer?

Ich habe einen großen Respekt vor der Bevölkerung, die diese massiven Beschränkungen verständnisvoll und klaglos hingenommen hat. Klaglos auch im wörtlichen Sinn, denn nur ganz wenige Fälle landeten vor Gericht. Wenn jetzt mit steigender Dauer die Menschen kritischer und ungeduldiger werden, verstehe ich dies. Doch bisher sind die Grundrechtseinschränkungen noch verhältnismäßig angesichts des Infektionsrisikos. Es ist ein Risiko nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.

Wie sehr hat Sie als Christen das Verbot von Gottesdiensten gestört?

Das fand ich sehr schade, gerade an Karfreitag und Ostern. Was sich die Kirchen digital haben einfallen lassen, hat mich gefreut. Die Übertragung des großartigen Gottesdienstes am Karfreitag aus der Unterkirche der Frauenkirche hat viele Menschen erreicht und mich sehr bewegt.

Vielleicht haben die Beschränkungen von Grundrechten vor Gerichten später doch keinen Bestand. Könnte es noch eine Prozessflut geben?

Das kann sein. Das ist so in einer Demokratie. Nehmen wir als Beispiel die 800 m², bis zu dieser Fläche der Einzelhandel öffnen darf. Das ist ein politischer Kompromiss. Natürlich kann da ein Gericht, wie jetzt in Hamburg, zu einer anderen Auffassung kommen. Solche Kompromisse sind auch immer juristische Abwägungen.

Maskenpflicht in Sachsen, in Berlin erst mal nicht. Bürger erleben den deutschen Förderalismus als Flickenteppich. Überholt er sich jetzt in der Corona-Krise?

Das ist für mich ein sehr wichtiges Thema, das mich meine gesamte politische Laufbahn begleitet. Bereits 2015/16 hatte ich einen Vorschlag für mehr Kompetenzen des Bundes gemacht, vor allem im Bereich der Sicherheit. Allerdings sehe ich nicht die generelle Ablösung des Föderalismus durch einen neuen Zentralismus als Ziel. Dezentrale Verantwortung ist oft hilfreich, da sie viel näher dran ist. 

Ein gewählter Landrat, der verantwortlich führt, ist besser, als ein Landrat als nachgeordneter Beamter einer zentralen Stelle. Ein paar Dinge müssen jedoch zentral geregelt werden. Zum Beispiel Grenzkontrollen zwischen deutschen Ländern können nicht Ländersache sein. Vorsorgemaßnahmen, wie ausreichend Schutzausrüstung für eine Pandemie darf nicht Ländersache, sondern muss Bundessache sein. Da gäbe es auch noch andere Beispiele.

Das sollte nach der Pandemie besprochen werden, oder?

Ja, das ist eine Aufgabe für danach. Doch wir sollten uns ihr dringend stellen.

Wir werden in diesem Jahr nicht mehr zu einem normalen Schulunterricht zurückkehren können. Sehen Sie da ein Problem?

Als ich zur Schule ging, damals im Westen, da haben die Kultusminister entschieden, die Versetzung verlagern wir von Ostern auf den Sommer. Es wurden zwei Kurzschuljahre durchgeführt. Ich hatte vier, fünf Monate weniger Unterricht als vorher. Da ging die Welt auch nicht unter. Das kann man aufholen, auch wenn das alles viel abverlangt. Ich freue mich über den aktuellen Innovationsgeist an den Schulen.

Im Jahr 2005 wurde der Bundes-Pandemieplan aufgestellt, das waren Sie gerade noch Innenminister in Sachsen. 2017 wurde er aktualisiert, da waren Sie Bundesinnenminister. Gab es angesichts der bisherigen Mängel an Schutzkleidung vielleicht auch Mängel in der Pandemieplanung?

Ja, die gab es. Das liegt eben daran, dass wir unangenehme Dinge vor uns herschieben. Das war vor der großen Elbe-Flut ähnlich. Da wurden Häuser sogar in Flutschutzgebiete gebaut. Selbst einige Zeit nach der Flut wurde damit wieder begonnen. Der Bund war für die Umsetzung der Pandemiepläne nicht zuständig, aber damit will ich mich nicht herausreden. Wir Menschen versichern uns gegen alles Mögliche, aber nur scheinbar. Eine Krankenversicherung versichert uns ja nicht gegen Krankheiten, sondern nur gegen die Folgen der Krankheit. Vorsorge ist auch für eine gesamte Gesellschaft wichtig. Wir dürfen Gefahren nicht verdrängen und müssen besser Vorsorge treffen.

Der Bund schüttet Milliarden an Unternehmer und auch an Arbeitnehmer aus. Können wir uns das überhaupt leisten? Wer bezahlt das am Ende? Kann das ohne Steuererhöhungen funktionieren?

Ich habe die schwarze Null, die Schuldenbremse mit verhandelt. Doch jetzt ist finanzielle Hilfe für die Arbeitnehmer und Unternehmen wichtiger. Im Moment ist eine Neuverschuldung von gut 150 Milliarden vorgesehen- doppelt soviel wie am Ende der Finanzkrise. Und Konjunkturprogramme werden wohl noch kommen. Nach dem Ende der Krise wollen wir fünf Milliarden jährlich zurückzahlen. Das klingt nicht nach viel, ist aber die Hälfte des Solidaritätszuschlages. Die goldenen Zeiten im Haushalt sind vorbei.

Der Druck auf Deutschland wächst, vor allem aus Italien, gemeinschaftliche verbriefte Euro-Anleihen aufzulegen. Der deutsche Steuerzahler müsste also für italienische Schulden geradestehen. Wie sehen Sie das?

Ich bin dagegen. Wir sind als Deutsche europäisch solidarisch, aber ich denke nicht, dass Corona-Bonds dafür das geeignete Instrument sind. Außerdem würde es eine Änderung europäischer Verträge bedeuten, was kaum durchsetzbar ist und lange dauert. Corona-Bonds wären also nichts, was sofort hilft. Es gibt milliardenschwere europäische Hilfsmechanismen wie den Hilfsfonds ESM, die sich sofort einsetzen lassen.

Italien will den ESM nicht. Das klingt nach deutscher Bevormundung wie damals in Griechenland.

Das verstehe ich. Aber die Finanzminister haben die strengen Auflagen weggenommen und nur eine Bedingung gestellt: das Geld soll für das Gesundheitssystem oder den Wideraufbau verwendet werden und nicht etwa für eine Absenkung des Renteneintrittsalters. Und das finde ich richtig.

Viele Sachsen und Landkreisbewohner stört die Abrieglung der Grenzen, vor allem zu unseren Nachbarn Polen und Tschechien. Wie lange noch?

Die Tschechische Republik will das noch lange so belassen. Erinnern wir uns an das Jahr der Flüchtlingskrise 2015. Damals waren die Rufe nach Grenzschließung laut, heute klingt das ganz anders. Heute haben die Pendler große Probleme, die Menschen, die im Nachbarland arbeiten. Ich hoffe, es löst sich bald.

Wie sehen Sie das Krisenmanagement in Sachsen und auch im Landkreis Meißen?

Alles in allem machen die Bundesregierung, die Staatsregierung und die Verwaltung des Landrates einen sehr guten Job. Vielleicht sollten wir das Wort bürokratisch jetzt etwas anders sehen. Wer, wenn nicht die Bürokratie, hilft jetzt den Menschen in Not. Wer, wenn nicht die Bürokratie zahlt Hilfsgelder an Arbeitnehmer und Unternehmen aus. Dafür bin ich dankbar.

Das Gespräch führte Ulf Mallek.

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