Von Peter Anderson
„Das ist für mich, als würde Vieh zur Schlachtbank geführt.“ Tino Petrick schüttelt fortwährend den Kopf. Er kann und will nicht begreifen, warum seine Loks plötzlich zum alten Eisen gehören sollen. „Die vergangenen beiden Jahre waren schlimm“, murmelt er leise. Wegen des hohen Schrottpreises habe die Bahn reinen Tisch gemacht in ihren Depots. Pardon wurde nicht gegeben. „Die Chinesen bauen jetzt ihre Wolkenkratzer mit dem Stahl aus unseren verschrotteten Loks.“
Ehrendes Andenken bewahren
Mit dem Wörtchen „unsere“ hat es seine besondere Bewandtnis. Damit meint der 19-jährige Großenhainer nicht etwa die Bestände der Deutschen Bahn. „Unsere“ sind für den bekennenden Ostdeutschen nur Lokomotiven und Waggons der Deutschen Reichsbahn aus DDR-Zeiten. Um ihnen ein ehrendes Andenken zu bewahren, bereitet Petrick derzeit die Gründung eines Vereins „Neue Deutsche Reichsbahn“ vor. „Für diesen Bereich gibt es noch nichts“, erklärt der Hobby-Reichsbahner. Der Lößnitzdackel hat seinen Traditionsverein. Die Geschichte der Dampflokomotive ist bestens dokumentiert. Fanatisch kämpfen ihre Anhänger um die Bewahrung jeder Maschine. Erst jüngst ging ein Aufschrei durch das Lager der Traditionalisten, weil die schnellste betriebsfähige Dampflok der Welt nach Übersee verschoben werden sollte.
Für das Erbe der Deutschen Reichsbahn hingegen fehlt ein kompetenter Anwalt. Petricks Verein „Neue Deutsche Reichsbahn“ soll in diese Lücke springen. 14 Gleichgesinnte aus Ost und West konnte er bisher auf seine Seite bringen. Einige seien selbst noch mit dabei gewesen. Andere kennen die Reichsbahn nur vom Hörensagen. Der Anspruch des Vereinsgründers hat enzyklopädisches Ausmaß. „Wir wollen alles zusammentragen und dokumentieren, was mit der Reichsbahn der DDR zu tun hat. Vom Güterwagen über die Rangierfahne bis zu eher verborgenen Details wie den Stufenschaltern“, sagt Petrick. Das Internet böte gute Möglichkeiten, diese gesammelten Werke übersichtlich aufgearbeitet der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wie ernst es der junge Mann mit dieser Forderung meint, beweist ein Blick in die Bücherregale seines Jugendzimmers. In dicken Alben ist dort auf 3 700 Fotos und etlichen Filmrollen ein Teil der Reichsbahn-Hinterlassenschaft archiviert. Jede Lok soll in den nächsten Jahren ihr eigenes Karteikärtchen mit den wichtigsten Lebensdaten erhalten. Wochenende für Wochenende folgt der angehende Bürokaufmann dafür dem Ruf der alten Reichsbahn. Private Tipps oder Hinweise aus dem Fachblatt „Drehscheibe“ bringen ihn auf die Spuren der Oldtimer. Wenn das Geld knapp ist, schreckt er selbst vor längeren Radtouren nicht zurück, um seine Lieblinge abzulichten.
„Die Bahn hat offenbar den Überblick über ihre Bestände verloren“, sagt der Jäger und Sammler. Im Gefängnis Brandenburg stünden mehrere so genannte Taiga-Trommeln. Die russischen Dieselloks sollten von Häftlingen zerlegt werden, überlebten jedoch. Weitere Reichsbahn-Aktivisten rosteten in Mukran als Betriebsreserve der Deutschen Bahn vor sich hin. Mit einem finanzkräftigen Verein im Rücken hofft er, die Todgeweihten retten zu können. „Der alte Baustoffhandel am Berliner Bahnhof wäre ideal als Zwischenlager“, spinnt Petrick den Faden weit in die Zukunft. Das Unternehmen Bahn zeige keinerlei Traditionsbewusstsein. Schlimmer noch, es betreibe die Ausrottung seiner ostdeutschen Wurzeln. Bester Beleg in den Augen des Großenhainers: Westloks aus den 60er Jahren dürften immer noch zur Hauptuntersuchung, während auf ihre 20 Jahre jüngeren Ost-Schwestern bereits der Reißwolf warte. Seine Robustheit beweise das alte Reichsbahn-Material in Osteuropa. „Dort hält die Bahn viele Beteiligungen und hat die Loks dahin verkauft“, sagt Petrick. Treu und ohne zu murren verdienten die Veteranen von Tschechien bis Rumänien ihr Gnadenbrot.
Sein Interesse an der Bahn erklärt sich Petrick aus der Kindheit. „Meine Oma hat in Zschieschen an der Bahnstrecke gewohnt.“ Dort habe er als Knirps stundenlang die Züge beobachtet.
Kontakt: [email protected]