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Die Kirche und der Missbrauch

Sexualverbrechen haben die Kirche tief erschüttert. Ein Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen zieht Zwischenbilanz.

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© dpa

Von Hans Zollner

Bei einer Begegnung mit Papst Franziskus sagte ein Missbrauchsopfer in tiefer Traurigkeit und Verzweiflung: „Jesus hatte seine Mutter bei sich, als er in sein Leiden ging und starb. Meine Mutter, die Kirche, hat mich in meinem Schmerz und meiner Einsamkeit im Stich gelassen.“ Aus diesem einen Satz lässt sich viel von dem ableiten, was die Kirche und insbesondere die Verantwortlichen in der Kirche ändern müssen. 

Die schweren Verbrechen gegen Kinder und Jugendliche haben die Glaubwürdigkeit der Kirche tief erschüttert. Die fehlende Klarheit und Entschiedenheit von Bischöfen angesichts der Missbrauchsfälle haben viele Gläubige enttäuscht. Die Folge: die Menschen verlieren das Vertrauen in die Kirche.

In meiner Ausbildung als Psychologe und Psychotherapeut musste ich mich akademisch mit Pädophilie und in der Therapie mit familiärem Missbrauch auseinandersetzen, aber das, was mir seit Jahren begegnet, konnte ich mir nicht vorstellen, auch nicht, als ich 2003 an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom zu lehren begann. Das änderte sich erst, als vor zehn Jahren – Ende Januar 2010 – der Missbrauchsskandal in der Kirche an die Öffentlichkeit kam. Seitdem vergeht kein Tag, an dem mich die Not der Betroffenen von Missbrauch nicht bewegen und der Einsatz für den Schutz von Minderjährigen und Schutzbefohlenen nicht motivieren würden. 

Ich habe mittlerweile in fast 70 Ländern auf allen Kontinenten Workshops für Bischöfe und Kirchenpersonal aller Art geleitet und organisiere internationale Konferenzen.

„Problem des Westens“

Seit 2012 leite ich das Kinderschutzzentrum (Centre for Child Protection – CCP) der Gregoriana. Sein Hauptziel ist die Aus- und Weiterbildung von Personen, die im Bereich der Missbrauchsprävention arbeiten. Außerdem fördern wir Präventionsmaßnahmen und tragen dazu bei, weltweit Bewusstsein und Sensibilität für das Thema Kinderschutz zu schaffen, sowohl innerhalb der Kirche als auch in der Gesellschaft.

Es gilt, gemeinsam etwas zu tun, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen konsequent und engagiert fortzusetzen. Allerdings braucht es dafür Ausdauer und Hartnäckigkeit. Aufklärung und Präventionsarbeit gehen voran, intensiver als jemals zuvor. Dabei liegen noch viele Aufgaben vor uns. Auch weil bis heute große Unterschiede in der Wahrnehmung des Themas existieren.

Es gibt Weltgegenden, in denen das Thema sexueller Missbrauch bis heute überhaupt keine Rolle spielt oder, wie etwa in Teilen Osteuropas, Afrikas und Asiens, als „Problem des Westens“ angesehen und bestritten wird, dass es solchen Missbrauch im eigenen Land gab und gibt.

Die katholische Kirche ist mit mehr als 1,3 Milliarden Mitgliedern in 200 Ländern vielleicht die größte, älteste und komplexeste Institution der Welt. Da kann ein grundlegender Wechsel nur von verschiedenen Seiten angegangen werden. Es geht dabei um Transparenz, Rechenschaftspflicht, Normen- und Rechtsverständnis. Nicht nur an verschiedenen Orten und auf unterschiedlichen Ebenen muss dieser Wechsel vollzogen werden, sondern auch im Verhalten und im Bewusstsein der Verantwortlichen.

Unser Autor: Hans Zollner. Seit 2012 leite er das Kinderschutzzentrum (Centre for Child Protection – CCP) der Gregoriana.
Unser Autor: Hans Zollner. Seit 2012 leite er das Kinderschutzzentrum (Centre for Child Protection – CCP) der Gregoriana. © dpa

Die lokalen Kirchenleitungen und all jene, denen das Wohl der Schutzbedürftigen am Herzen liegt, sind in der Bringschuld und müssen umsetzen, was seit Jahren von der zentralen Kirchenleitung in Rom vorgegeben wird. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus sowie die zuständigen Behörden in Rom haben wiederholt kommuniziert, dass der Grundsatz Victims First (Opfer zuerst) gelten soll, und dass die Rechtsgrundsätze sowohl der Kirche als auch des Straf- und Zivilrechtes des jeweiligen Landes eingehalten werden müssen. Zudem wird von allen 118 Bischofskonferenzen weltweit das Verfassen und die stete Verbesserung von umfassenden Richtlinien eingefordert, inklusive der entsprechenden Schutzkonzepte.

Der ungeschminkten Wahrheit ins Auge zu schauen, zu wissen, welche Verbrechen, welches Unheil geschehen ist, sowie die notwendigen Gegenmaßnahmen zu benennen, das sind die Grundbedingungen, fundiert und effektiv Präventionsarbeit leisten zu können. Das heißt vor allem, gesunde und sichere Lebensräume und Umgangsformen zu schaffen, durch die Sexualstraftaten verhindert werden sollen, bevor sie überhaupt geschehen können.

In Deutschland und in vielen anderen Ländern haben kirchliche Institutionen mittlerweile wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. Auch sollten Priesterkandidaten, Priester, Angehörige von Ordensgemeinschaften und alle hauptamtlichen kirchlichen Angestellten in ihrer Aus- und Fortbildung die notwendige Begleitung erfahren, emotional reifen und ein gesundes Selbstbild entwickeln können sowie Freundschaften mit Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts zu pflegen. 

Außerdem müssen Priester in ihren Fortbildungen das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz in der Seelsorge lernen. Das Wissen darüber, welche Verhaltensweisen Minderjährigen gegenüber unangemessen sind, hilft möglichen Grenzüberschreitungen vorzubeugen.

Kampf wird noch lange dauern

Es hat sich etwas getan, und es tut sich weiter was. Systemische Veränderungen, also Veränderungen, die das ganze System betreffen, sind im Gang. In der Öffentlichkeit ist es kaum bekannt, dass die katholische Kirche in einer Reihe von Ländern ein flächendeckendes Netz von Präventions- und Interventionsstellen geschaffen hat.

Darüber hinaus werden nicht nur kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Art, sondern auch Ehrenamtliche (z.B. für Kinderfreizeiten, Kommunion- oder Firmunterricht) zu Fragen von Prävention und Intervention geschult und müssen Selbstverpflichtungserklärungen zum Schutz von Minderjährigen abgeben.

In einigen Ländern ist die Kirche als Reaktion auf die dort öffentlich gewordenen Skandale manchmal die einzige gesellschaftliche Größe, die flächendeckend Leitlinien zum Umgang mit Opfern und Tätern sowie Präventionsmaßnahmen eingeführt hat. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen: Die Missbrauchsfälle haben unser Kirchen- und auch das Priesterbild verändert. Ist die Kirche bereit, Fehler einzugestehen? Ist sie bereit, ihre Priester nach der Weihe zu begleiten und sie nicht alleinzulassen? Und den Opfern zuzuhören? Alle diese Fragen gilt es zu beantworten.

Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch wird noch lange dauern und man muss von der Illusion Abschied nehmen, dass das bloße Einführen von Regeln oder Leitlinien die gänzliche und endgültige Lösung bringen wird. In der weltweiten Kirche den sexuellen Missbrauch zu bekämpfen, ist eine Herkules-Aufgabe, bei der sehr viele Akteure in Kirche und Gesellschaft zusammenwirken müssen. Es geht um die Veränderung von Einstellungen. Dazu braucht es eine kritische Öffentlichkeit und den Mut, sich zu ändern. Das sollte nicht unmöglich sein für eine Institution, die sich in ihrer 2.000-jährigen Geschichte immer wieder großen Herausforderungen zu stellen hatte.

Unser Autor: 

  • Hans Zollner SJ (53) ist Theologe und Psychologe und seit 2010 akademischer Vizerektor der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Der Jesuit leitet das Centre for Child Protection und war Mitglied der Arbeitsgruppe „Forschung und Lehre“ des von der Bundesregierung eingesetzten Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch.
  • Am 20. Februar ist Hans Zollner zu Gast im Kathedralforum Dresden beim Thementag „Macht – Verführung und Missbrauch entkommen“