Die letzte Rettung für Flüchtlinge in Ungarn

Wer eines der beiden Flüchtlingslager Ungarns auch nur sehen will, der muss nach Serbien fahren. In die ungarischen Lager kommt außer Anwälten keiner, Journalisten schon gar nicht. Von Ungarn aus kann man die Lager nicht mal sehen, sie liegen direkt im Grenzgebiet, Wald schirmt die Sicht ab.
Also auf der Autobahn bei Szeged in Südungarn rüber nach Serbien. Direkt nach der Grenzabfertigung ist das Lager Röszke zu erkennen: viel Stacheldraht, dahinter Wohncontainer an Wohncontainer in der prallen Sonne. Sie sind so aufgestellt, dass das Innere des Lagers auch von der serbischen Seite nicht einzusehen ist. Es wirkt wie ein Hochsicherheitsgefängnis.
„Genau so ist es angelegt. Es ist wie ein Knast“, bestätigt Aniko Bakonyi. Sie ist die Chefin des Bereichs Flüchtlinge/Asyl beim ungarischen Helsinki-Komitee. Die 30 Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation, darunter viele Anwälte, arbeiten in einer großen Wohnung mitten in Budapest und sind die letzte Rettung für Flüchtlinge in Ungarn. Auch wenn die Regierung Orban 2017 jede Zusammenarbeit mit der Organisation aufgekündigt und das Helsinki-Komitee praktisch zum Feind erklärt hat. Begründung: Verrat nationaler Interessen.
Was machen Sie denn Schlimmes, Frau Bakonyi? „Wir bemühen uns darum, das Mindeststandards bei den Menschenrechten in den beiden Lagern eingehalten werden.“ Die Frage, ob die Lage in den Flüchtlingslagern wirklich so schlimm sei, bringt die freundliche, aber energische Frau richtig in Fahrt: „Das ganze System, wie Ungarn mit Flüchtlingen umgeht, ist eine einzige Menschenrechtsverletzung.“
Es geht damit los, dass in den Lagern pro Tag nur ein Flüchtling aus den serbischen Auffanglagern auf die ungarische Seite wechseln darf. Genauer, nur an jedem Werktag. Das heißt, pro Woche werden maximal zehn Personen in die Lager gelassen, um einen Asylantrag zu stellen. Im Jahr also ganze 500 in Ungarn. Auf der serbischen Seite müssen sie bis zu zwei Jahre auf diesen Tag warten. Wenn sie drin sind, gibt es keine Gesundheitschecks. Sie müssen bis zum Entscheid bis zu 18 Monate in dieser knast-ähnlichen Einrichtung verbringen, auch Minderjährige. Niemand darf in dieser Zeit das Lager verlassen. „Eine solche Behandlung gibt es sonst nirgendwo in Europa und hat mit der Pflicht der Ungarn, die EU-Außengrenzen zu schützen, nichts zu tun“, sagt Bakonyi. Es geht um Menschlichkeit und um Rechtsstaatlichkeit.
Es kommt noch schlimmer. Seit Sommer 2018 gilt die staatlich verordnete Regelung, dass abgelehnte Asylbewerber sofort das Lager in Richtung Serbien verlassen müssen, wo sie sich dann illegal aufhalten und sehen müssen, wie sie zu Fuß zurück nach, sagen wir, Afghanistan kommen. Abschiebeflüge wie in Deutschland gibt es in Ungarn nicht.
Wer dann nicht sofort geht, dem wird die Nahrung entzogen. Das passiert ständig. Aniko Bakonyi hat erst im Frühjahr den Fall einer afghanischen Mutter, die mit ihren vier Kindern im Lager war, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Die ungarischen Behörden hatten die Mutter von ihren drei minderjährigen Kindern getrennt. Die drei wurden weiter versorgt, während die Mutter und ihr volljähriger Sohn hungern mussten. Sie wurden getrennt, damit die Kinder ihr Essen nicht mit den Erwachsenen teilen konnten.
Der Gerichtshof hat der Klage stattgegeben und Ungarn verdonnert, sofort wieder Nahrung an die ganze Familie auszugeben. Die Behörden machen das dann auch. „So ein Erfolg ist schon ermutigend,“ meint Aniko Bakonyi. „Aber es ist auch frustrierend, dass ein Mitglied der Europäischen Union so mit Menschen umgeht und gezwungen werden muss, Nahrung auszugeben.“ Der Europäische Gerichtshof hat bisher allen Hungernden geholfen. Nur muss das Helsinki-Komitee tatsächlich in jedem einzelnen Fall in Strasbourg klagen.

Wieso nimmt eine Mehrheit der Ungarn so etwas hin? Bei den Europawahlen reichte es für Orban wieder für eine satte Mehrheit. Die Soziologin Vera Messing vom Zentrum für Sozialwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften versucht, diese Frage zu beantworten. Sie analysiert die Haltung ihrer Landsleute gegenüber Flüchtlingen und ist beteiligt an einer groß angelegten vergleichenden Europa-Studie. Das wichtigste Ergebnis: Zwölf Prozent der Europäer insgesamt lehnen Migranten von außerhalb des Kontinents ab. Über dem Schnitt liegen Italien, Österreich und die Visegrad-Staaten.
Aber Ungarn schlägt alle Negativ-Rekorde. Hier sind es 62 Prozent der Bevölkerung, in den letzten Jahren ist die Ablehnung sogar noch deutlich gestiegen, obwohl kaum Flüchtlinge im Land sind.
Gründe gibt es viele. Die Ungarn hatten bisher kaum mit Ausländern zu tun. Vielleicht spielen auch historische Erfahrungen eine Rolle, wie die lange Besetzung des Landes durch die Türken. Aber Vera Messing lässt keine Zweifel an der wichtigsten Ursache: Es ist die Orban-Regierung selbst und ihre Propaganda.

„Das geht bei der Sprache los“, erklärt Frau Messing. „Der Begriff 'Flüchtlinge' wurde verbannt, weil er den Behörden zu emotional erschien. Er wurde durch 'Migranten' ersetzt.“
Eine besonders raffinierte Methode, Stimmung zu machen, sind die „nationalen Konsultationen“. Dabei erhalten alle Bürger immer mal wieder Fragebögen, in denen sie um ihre Meinung gebeten werden. Klingt basisdemokratisch. Folgende Fragen wurden den lieben Landsleuten gestellt, hier eine kleine Auswahl. Als 2015 die vielen Flüchtlinge nach Ungarn kamen, wurde gefragt: „Man hört viele Meinungen über Terroraktionen. Wie wichtig ist das Thema aus ihrer Perspektive?“ Oder: „Was denken Sie, kann Ungarn Ziel des Terrorismus werden?“ Schließlich: „Es gibt Leute, die denken, dass Migration Arbeitsplätze gefährdet. Sind Sie einverstanden? Ja oder nein?“ Die Fragen haben eines gemeinsam: Sie lassen nur eine logische Antwort zu, und die war immer im Sinne der ungarischen Regierung und machte immer Stimmung gegen die Flüchtlinge.
Hinzu kam eine Plakataktion. Große, emotionale Fotos wurden mit Fragen versehen, die denen der „nationalen Konsultationen“ sehr ähnlich waren. Die Propagandakampagne der Orban-Regierung soll mehr Geld gekostet haben als die Brexit-Kampagne der Briten. Sie hat jedenfalls genauso gewirkt. Zumal die öffentlich-rechtlichen Medien, die Nachrichtenagentur und viele Regionalzeitungen, die fast alle längst unter dem Einfluss der Regierung stehen, dies weitgehend kritiklos gmitgemacht haben.
Derweil sitzt Aniko Bakonyi in ihrem Büro, das sie mit mehreren ständig telefonierenden Kollegen teilt, nimmt Hilferufe von Flüchtlingen entgegen, steuert den Einsatz der Anwälte, reicht Klagen ein. Viele ihrer Klagen haben vor ungarischen Gerichten Erfolg, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sogar fast alle. Immer mal wieder spricht sie auch mit ausländischen Journalisten, um auf die schwierige Situation und die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Spenden müssen sie einwerben, denn von der Regierung gibt's nichts.
Kann denn die Europäische Union noch mehr helfen? Ist mehr Druck auf die Orban-Regierung sinnvoll? Frau Bakonyi zögert kurz. „Starke Worte helfen nicht weiter. Druck ist dann hilfreich, wenn ungarische Rechtsnormen gegen europäische verstoßen und dann Änderungen verlangt werden. Und besonders hilfreich sind Urteile aus Strasbourg. Die setzt die Regierung anstandslos um.“
Und wie geht Aniko Bakonyi, die seit neun Jahren für das Helsinki Komitee arbeitet, persönlich mit dem Druck um? „Ach, es geht“, wiegelt sie ab. „Ungarn ist ja nicht Russland.“ Angriffe auf die Mutter von zwei Kindern gab es bisher nicht.
Wirklich keine Angst, wenn man mit einer so kleinen Organisation einem übermächtigen Staat gegenübersteht? „Nee, habe ich nicht, dann könnte ich das hier nicht machen. Ich bin nur sehr, sehr traurig, miterleben zu müssen, in welche Richtung mein Land marschiert.“