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Die letzte Schlacht

Wenige Tage vor Kriegsende kommen in der Lausitz Tausende Soldaten zu Tode. Der Bautzener Georg Nuck wird Augenzeuge der grausamen Kämpfe.

Von Miriam Schönbach
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Im April 1945 stoßen polnische und russische Soldaten in die Lausitz vor. Das Foto zeigt Militärtechnik und einen russischen Soldaten vor dem Bautzener Bahnhof, aufgenommen vom Bautzener Fotografen Oskar Kaubisch im Mai 1945.
Im April 1945 stoßen polnische und russische Soldaten in die Lausitz vor. Das Foto zeigt Militärtechnik und einen russischen Soldaten vor dem Bautzener Bahnhof, aufgenommen vom Bautzener Fotografen Oskar Kaubisch im Mai 1945. © Museum Bautzen, Repro: SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Donnergrollen liegt schon seit Tagen in der Luft. Geschützfeuer schallt im Minutentakt aus Richtung Malschwitz, Radibor und Guttau über das Land. In den frühen Morgenstunden des 20. April 1945 bebt auf einmal Weidlitz. Fast zwei Stunden fühlt es sich an, als würde die Erde Risse bekommen. An Schlaf denkt nun der knapp elfjährige Georg Nuck nicht mehr. „Die Deutschen hatten die Munitionsfabrik in Königswartha gesprengt“, erinnert sich der Bautzener. Ein paar Stunden später gegen 10 Uhr reiten die ersten polnischen Kosaken in den kleinen Ort.

Die 2. Polnische Armee mit etwa 90.000 Soldaten ist seit dem 16. April im Fronteinsatz in der Lausitz, dazu kommen russische Einheiten. Im schnellen Tempo verfolgen sie die deutsche Abwehr fast bis in die Dresdner Heide. Rothenburg, Niesky und Horka nehmen sie in kürzester Zeit ein. Schwere Kämpfe entwickeln sich dagegen um Weißenberg und Bautzen. Die Spreestadt ist zur Festung erklärt. Hier entbrennt ein erbitterter Kampf um jedes Haus. Gleichzeitig lässt Oberst Dietrich Hoepke ab dem 18. April Soldaten wie Zivilisten, die nicht in ihren Stellungen bleiben, auf der Ortenburg erschießen.

Schüsse fallen auch in Weidlitz, dem kleinen Dorf zwischen Neschwitz und Panschwitz-Kuckau. Einem polnischen Soldaten genügt ein ausgehändigter Wecker als Beute nicht. Kurzerhand zerlöchert er ihn mit einer Gewehrsalve. Die Kinder des Dorfes stehen schreiend daneben. Die letzten Verbliebenen gehen nun auf die Flucht. Mutter Agnes Nuck aber nimmt ihren Leiterwagen samt den vier Kindern und stiefelt die Kirschallee hinter dem Gutshof hoch in das ein Kilometer entfernte Neu-Lauske. Dort wohnt ihre Mutter auf einer kleinen Wirtschaft. Alle 16 Familien sind noch da. Sie widersetzen sich einfach dem Räumungsbefehl.

Georg Nuck ist heute 85 Jahre alt. Er lebt in Bautzen. Für die SZ blickt er auf das Kriegsende zurück.
Georg Nuck ist heute 85 Jahre alt. Er lebt in Bautzen. Für die SZ blickt er auf das Kriegsende zurück. © Archivfoto: Miriam Schönbach

Neu-Lauske ist ein Straßendorf, hoch liegt es über den anderen Ortschaften. Weit lässt sich in die Landschaft schauen. Aus drei Häusern hängen weiße Fahnen. Ein, zwei Tage ist Ruhe mitten in diesem Weltkriegs-Getöse. Georg Nuck und seine Freunde Franz Sende und Benno Pötschke versuchen sogar, mit den polnischen Soldaten ins Gespräch zu kommen. Manche antworten mit einem Lächeln, andere weisen sie nur barsch ab.

Einige der Kämpfer sind mit 19 Jahren nur wenig älter als die Jungen aus dem Dorf. Sie haben keine Zeit für Kindereien.Denn Hitlers Armee bäumt sich ein letztes Mal auf. Aus dem Muskauer Forst rücken das Panzerkorps Großdeutschland und die Division Brandenburg mit 50.000 Soldaten vor. „Wir beobachteten, dass vom Salzenforster Berg auf einmal wieder Panzer Richtung Dreikretscham fahren und hörten, dass die Deutschen die Russen aus Bautzen vertrieben haben. Wir wussten gleich gar nicht mehr, wer wo ist“, sagt Georg Nuck. Auf jeden Fall holen die Neu-Lausker schnell ihre weißen Fahnen herein.

Eines Nachts wird der Junge von einem Klopfen wach. Ein polnischer Soldat bittet um Brot. Die Großmutter reicht es durch ein Fenster. Da haben die Deutschen die polnischen und russischen Einheiten schon eingekesselt. Am 21. April beginnen sie die letzte größere und erfolgreiche deutsche Panzeroffensive.

Für die Einheimischen ist die Lage schwer zu erkennen. Sie machen sich in erster Linie Sorgen um ihre Familienangehörigen. So schickt die Mutter ihren Sohn Georg Nuck und seine zwei älteren Freunde am Morgen des 26. April nach Ostro, um nach ihrer Schwester zu schauen. Sie ahnt wohl nicht, dass der Zehn-Kilometer-Marsch eine gefährliche Odyssee für die Abenteurer wird. „Ich sollte bitterlich weinen, wenn uns Polen oder Russen begegneten. Kindertränen konnten Soldatenherzen erweichen“, sagt der 85-Jährige. Unbehelligt kommen sie bei der Tante an.

Georg Nuck mit den Schwestern und der Mutter: Als knapp Elfjähriger erlebte er die letzte große Schlacht des Krieges mit.
Georg Nuck mit den Schwestern und der Mutter: Als knapp Elfjähriger erlebte er die letzte große Schlacht des Krieges mit. © Archivfoto: privat

Gegen 14 Uhr soll es zurückgehen, auf denselben Feld- und Dorfwegen wie auf der Hintour. Bei Siebitz stoppt die drei Jungen ein polnischer Soldat. Wie aus dem Nichts rollen auf einmal Panzer und Lkw Richtung Lehndorf. Schützengräben säumen auf einmal den Straßenrand. Deutsche Flugzeuge fliegen bombardierend über die Gegend. Die Polen werden aus allen Richtungen beschossen.

Georg Nuck und seine Freunde versuchen, dem Inferno zu entkommen. Sie drücken sich in Gräben, verstecken sich im hochstehenden Getreide und im jungen Klee. „Jetzt wussten wir, dass wir uns mitten in der Front befanden“, sagt der Zeitzeuge. Erschöpft gelangen sie nach Neuhof. Bei Verwandten stillen sie ihren Durst mit Brunnenwasser und einem Spritzer Essig. Dann machen sie sich auf den Heimweg.

Die Freunde vermeiden alle großen Wege, sozusagen querfeldein im Schutz der Wälder laufen sie nach Neu-Lauske. Immer wieder stoßen sie auf deutsche Kampfverbände. Gegen 21.30 Uhr schließen Mutter und Großmutter die Jungen wohlbehalten wieder in die Arme.

Einen Tag später bezieht eine Einheit der Waffen-SS Stellung im Dorf und beschießt mit Granatwerfern die verschanzten polnischen Soldaten in Weidlitz. Dann krachen deutsche Panzer in den Ort. Ohne Gnade mordet Hitlers Elitetruppe. So brennen sie die Gutsschmiede ab. Dort befindet sich ein polnisches Lazarett. Im Feuer kommen alle um. Georg Nuck hört einen jungen Soldaten brüllen: „Jetzt drängen wir den Iwan bis Breslau zurück“. Aber in diesen Tagen wird nur noch hemmungslos gemetzelt.

Nach der Schlacht schlagen die Wehrmachtslandser polnischen Verwundeten den Schädel mit dem Klappspaten ein, Gefangene werden erschossen. Noch Wochen nach dem Kriegsende finden die Bauern verweste Tote in polnischen Uniformen.

Das Buch „Die letzten Zeugen. Geschichten vom Kriegsende 1945 in Sachsen“ wurde von der Redaktions- und Verlagsgesellschaft Freital-Pirna 2015 herausgegeben; ISBN: 9783936642186.
Das Buch „Die letzten Zeugen. Geschichten vom Kriegsende 1945 in Sachsen“ wurde von der Redaktions- und Verlagsgesellschaft Freital-Pirna 2015 herausgegeben; ISBN: 9783936642186. © Repro: SZ

Doch der Jubel der Totenkopf-Truppe über den letzten deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg wehrt nur kurz. Sie kommen auch zu spät, um Berlin zu retten, wie ihnen Adolf Hitler noch am 26. April aufträgt. Er begeht am 30. April im Bunker unter der Reichskanzlei in Berlin Selbstmord.

Sieben Tage später hört Georg Nuck beim Füttern des Schafs wieder ohrenbetäubendes Getöse aus der Ferne. Unzählige russische Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Laster, motorisierte Infanterie, Wagen mit Pferden fahren in Begleitung Hunderter Soldaten durch Weidlitz und schlagen übermüdet, abgekämpft auf den Feldern der Umgebung ihr Nachtlager auf.

Da ist der Frieden schon zum Greifen nah. Am 8. Mai landet auf der Wiese des Lausker Ritterguts ein Doppeldecker mit dem roten Stern. Der russische Offizier verkündet: „Der Krieg ist zu Ende.“ Seine restlichen Worte gehen im Freudenjubel und unter Gewehrsalven unter. Die drei Abenteurer bekommen erschöpft, aber glücklich zur Feier des Tages ein großes Stück Speck und einen Schnaps.

Der Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Die letzten Zeugen. Geschichten vom Kriegsende 1945 in Sachsen“, herausgegeben von der Redaktions- und Verlagsgesellschaft Freital-Pirna.

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