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Das Schweigen der Gemäßigten

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über Verschwörungstheorien, ihr Entstehen und über die Neuordnung unserer Informationswirklichkeit.

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Die Corona-Proteste der vergangenen Tage: Verstörende Bilder. Verstörende Botschaften.
Die Corona-Proteste der vergangenen Tage: Verstörende Bilder. Verstörende Botschaften. © Christian Mang/Reuters

Herr Pörksen, sehen Sie in der derzeitigen Corona-Pandemie auch die Gefahr einer Pandemie von Verschwörungstheorien?

Absolut. Wir kämpfen nicht nur gegen ein Virus, sondern auch gegen eine Infodemie, ein brisantes, konstant brodelndes Gemisch aus Halbwahrheiten und Fehldeutungen, Verschwörungstheorien und klassischen Formen der Desinformation.

Es sind auch Ärzte oder Mediziner, die solche Theorien verbreiten. Können das alles Spinner sein?

Ich wäre vorsichtig mit pauschalen Abwertungsvokabeln und empfehle den genauen Blick. Ja, es gibt diejenigen, die Sie Spinner genannt haben. Aber es gibt auch jede Menge Verzweifelte, Verängstigte und Menschen, die an dem Verlust ihrer Grundrechte leiden und die aktuellen Maßnahmen für unverhältnismäßig halten. Das ist ein legitimer Standpunkt.

Erst rät die Kanzlerin von einer Maskenpflicht ab, bald darauf wird die Maskenpflicht eingeführt. Kein Wunder, dass die Politik ihre Glaubwürdigkeit verspielt?

Das hieße dann: Angela Merkel ist schuld bzw. die Krisenkommunikation der Regierenden. Das würde ich nicht sagen, nein. Es gab Fehler und Fehleinschätzungen, konfuse und revisionsbedürftige Aussagen des RKI, die falsche Diskurstabuisierung in Sachen Exit-Debatte Ende März und Anfang April. Aber insgesamt erleben wir gegenwärtig, so meine Behauptung, die Neuordnung unserer Informationswirklichkeit, die sich als Zweiteilung der Medienwelt zeigt. Auf der einen Seite: die klassischen Medien und der seriöse Journalismus, den sehr viele Menschen gerade jetzt wieder richtig schätzen lernen. Auf der anderen Seite ist es schlicht erschütternd, in welchem Maße auch gestandene Akademiker, Ärzte und Menschen aus der Mitte der Gesellschaft Verschwörungstheorien und Desinformationsmüll über die Corona-Pandemie verbreiten.

Woran erkennt man überhaupt eine Verschwörungstheorie?

An ihrer Unwiderlegbarkeit, ihrem „selbstimmunisierenden“ Charakter, wie der Philosoph Karl Popper gesagt hätte. Verschwörungstheorien sind, so könnte man sagen, Weltformeln des Übels, die sich kaum widerlegen lassen. Ein geübter Konspirationsfantast wird stets bis zur totalen Erschöpfung aller Beteiligten und Mit-Diskutanten auf seiner Position beharren und sagen: Nun, es gibt vielleicht keine unmittelbar erkennbaren Beweise. Aber die Verschwörer sind eben so raffiniert, dass sie geschickt alle Spuren verwischen. Das heißt: Selbst die Nichtbeweisbarkeit lässt sich zum Beweis umdeuten.

Sollte in einer freien Gesellschaft nicht alles diskutierbar sein: Wenn nur das geringste Körnchen Wahrheit in einer Verschwörungstheorie steckt …?

Es ist alles diskutierbar. Die Diskurs- und Kommunikationsräume sind – entgegen anderslautender Gerüchte – unter den aktuellen Medienbedingungen sperrangelweit geöffnet. Und jeder und jede kann im Netz seine persönliche Gesinnungsgemeinschaft finden – selbst die bekennenden katholischen Nichtschwimmer mit einem Interesse an Hirschgeweihen können in ihren Echokammern zu der Überzeugung gelangen: Wir sind doch viele! Und werden leider nicht gehört! Aber ernsthaft: Nun finden sich eben diejenigen, die sich ganz sicher sind, dass es das Virus gar nicht gibt, in ihren eigenen Selbstbestätigungsmilieus zusammen.

Bernhard Pörksen, 1969 in Freiburg geboren, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
Bernhard Pörksen, 1969 in Freiburg geboren, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. © Peter-Andreas Hassiepen

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Andererseits, wo kommen wir hin, wenn wir wieder darüber diskutieren müssen, ob die Erde eine Scheibe ist?

Dann bestimmt der Nonsens die öffentliche Agenda. Das ist tatsächlich eine Gefahr. Und doch: Man muss – ohne selbst in die Abwertungsspirale einzusteigen – widersprechen, um zu verhindern, das Irrationalismen, Wut und Geschrei das Kommunikationsklima von den Rändern her bestimmen. Das ist die These eines kleines Buches über die Kunst des Miteinander-Redens, das der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun und ich gerade veröffentlicht haben. Die Mehrheit der Gemäßigten, so unsere Annahme, schweigt viel zu laut.

Viele Zeitungen verzeichnen gerade eine stärkere Nachfrage: Ein Zeichen, dass der Bedarf an verlässlichen Informationen wächst?

Ja, ein typisches Muster in Zeiten von Krisen und Katastrophen. Man sieht: Der seriös recherchierende und umsichtig sortierende Journalismus ist zentral. Und gleichzeitig ist er ökonomisch massiv bedroht. Die Corona-Krise wirkt da wie ein Katalysator und macht klar, dass den Medien das robuste Geschäftsmodell, um Qualität zu refinanzieren, nach wie vor fehlt. Anzeigen brechen gerade jetzt massiv weg. In vielen Redaktionen herrscht Kurzarbeit, Entlassungen drohen.

Worauf müssen Medien achten, um diesen Vertrauensvorschuss nicht zu verspielen?

Sie müssen ihre eigenen Spielregeln erklären und wieder erklären. Transparenz ist die neue Objektivität, hat der Netztheoretiker David Weinberger einmal gesagt. Ein guter Punkt. Die Aufklärung über die eigene Branche als eine Art Zweitjob zu begreifen – darum geht es.

Steckt hinter den Verschwörungstheorien gar selbst eine Verschwörung? Russland beispielsweise wird vorgeworfen, den Westen mit Desinformation zu befeuern.

Das ist eine kuriose Wendung, in der Tat. Es gibt tatsächlich robuste Hinweise, dass russische Desinformationsspezialisten in den USA und Europa versuchen, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen, ein Klima des Systemmisstrauens zu schüren und Wahlen zu beeinflussen. Aber wie immer gilt im Falle dieser und anderer Behauptungen: Es braucht Belege, investigative Recherchen, präzise Beweise. Der Verdacht allein reicht nie.

Das Interview führte Marcus Thielking.

Buchtipp: Bernhard Pörksen/Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik, Hanser, 20 Euro.